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Abbildung: `Abdu'l-Bahá in Stuttgartaus dem Persischen ins Englische übertragen von Mirzaeh Gail.
(c) NSA of the Bahá'ís of USA, Wilmette, Ill. 1957, 1970
(c) Bahá'í-Verlag GmbH Oberkalbach 1973 ISBN 3 87037 060 2
INHALTHanzala und Nu'mán: Ein Christ bekehrt einen arabischen König 49
Der Bedarf an Erziehung 53Der Islam, Grundlage der abendländischen Kultur 82
Gottesoffenbarung - Quelle aller Kultur 86Nie ist der geistige Charakter wahrer Kultur unter so außergewöhnlichen Umständen und von einem so geeigneten Schriftsteller enthüllt worden, wie es in diesem Text von Abdu'l-Bahá geschah. 1875 niedergeschrieben, wurde das persische Original 1882 in Bombay lithographiert. Die erste englische Übersetzung ging 1910 in London, dann nochmals 1918 in Chikago in die Presse; sie trug den Titel »Mysterious Forces of Civilization« und wurde als »Die geheimnisvollen Mächte der Kultur« 1928-1930 in den Jahrgängen VIII und IX der »Sonne der Wahrheit« deutsch wiedergegeben. Die vorliegende genauere Neufassung nach der englischen Übersetzung von Mirzaeh Gail, auszugsweise in den »Bahá'í-Briefen« 4-7 (1961/62) enthalten, spiegelt die Meisterschaft einer Schriftstellerin wider, die das Englische wie das Persische beherrscht, einen persischen Vater und eine amerikanische Mutter besaß und lange Jahre in beiden Ländern als Journalistin wirkte.
Der Name Abdu'l-Bahá hat im Osten wie im Westen einzigartigen Ruhm erlangt als Symbol für Weisheit, Vornehmheit, Heldentum und rückhaltlose Hingabe an die Sache der geistigen Einheit und des Weltfriedens. Dieser Name ist ein Titel und bedeutet »Diener Bahás« (d.h. Diener Bahá'u'lláhs).
Am 23. Mai 1844 wurde Abdu'l-Bahá, ältester Sohn Bahá'u'lláhs, in Tihrán geboren: am selben Tag, als Alí-Muhammad, heute bekannt als der Báb, seine Sendung verkündete, eine neue religiöse Offenbarung einzuleiten und den weg für Bahá'u'lláh, den Begründer der Bahá'í-Religion, zu bereiten.
Abdu'l-Bahá war erst sechs Jahre alt, als der Báb in Tabríz den Märtyrertod erlitt, acht Jahre, als Bahá'u'lláh auf Befehl des Sháh im Síyáh-Chál, dem »Schwarzen Loch« von Tihrán, eingekerkert wurde. wenige Monate später begleitete 'Abdu'l-Bahá seinen Vater in die Verbannung nach Baghdád. Damit begann eine Zeit des Exils und der Gefangenschaft, die für Abdu'l-Bahá bis zum Jahre 1908 dauerte.
Aus Baghdád wurden Bahá'u'lláh, seine Familie und Sein Gefolge, nach Konstantinopel verbracht, von Konstantinopel nach Adrianopel und von Adrianopel in das Gefängnis der Festung Akká im Heiligen Land, wo Bahá'u'lláh 1892 verschied. Während dieser ganzen Zeit offenbarte Abdu'l-Bahá in triumphierender, vom Leid gestählter Durchgeistigung mehr und mehr jene Eigenschaften und Kräfte, auf welche Bahá'u'lláh die Zukunft seiner weltweiten Glaubensgemeinschaft gründete, indem Er Abdu'l-Bahá in seinem Testament als Vorbild religiösen Lebens, als Ausleger seines Wortes und als Mittelpunkt seines Bündnisses einsetzte.
Zwischen 1892 und 1908 erduldete Abdu'l-Bahá besonders harte Unterdrückung, bis lhn wie alle anderen vom Sultan verfolgten religiösen und politischen Gefangenen die jungtürkische Revolution befreite. Später traf General Allenby, der militärische Eroberer Palästinas im Ersten Weltkrieg, auf besondere Weisung des britischen Staatssekretärs für auswärtige Angelegenheiten, Lord Balfour, persönlich Maßnahmen für 'Abdu'l-Bahás Schutz.
1911 bis 1913 reiste Abdu'l-Bahá durch Europa und Nordamerika. Er besuchte die jungen Bahá'í-Gemeinden, sprach zu öffentlichen Versammlungen in Friedensvereinigungen, Universitäten, Kirchen, Negerkonferenzen und Synagogen, begegnete bedeutenden Regierungsbeamten, Geistlichen, Professoren und Lehrern und verkündete durch sein Beispiel und in beredten Worten die Grundsätze des Weltfriedens. Jede Namensliste der prominenten Zeitgenossen, die 'Abdu'l-Bahá begegneten, wäre zu lang; aber die Art und Weise, wie Er im Westen aufgenommen wurde, läßt sich aus einer bescheidenen Auswahl erkennen: Archidiakonus Wilberforce, Reverend R. J. Campbell, Lord Lamington, Sir Michael Sadler, die Maharadschas von Dschalawar und Radschputana, Professor E. G, Browne und Professor Patrick Geddes in London; der persische Gesandte, der türkische Botschafter und »kirchliche Würdenträger von verschiedenen Zweigen des christlichen Stammbaums« in Paris; Professor Arminius Vambery, verschiedene Parlamentsmitglieder, Graf Albert Apponyi, Prälat Alexander Giesswein und Professor Ignatius Goldziher in Wien; und in den Vereinigten Staaten von Amerika Dr. David Starr Jordan, Rabbi Stephen Wise, Alexander Graham Bell, Hon. Franklin K. Lane, Frau William Jennings Bryan, Andrew Carnegie, Hon. Franklin Mac Veagh, Admiral Peary, Rabindranath Tagore.
Die Reden und Schriften Abdu'l-Bahás, die das Wesen seiner Botschaft an den Westen am besten festgehalten haben dürften, sind Seine Ansprachen im City Temple, London, in der Stanford University, Kalifornien, im Tempel Emmanuel, San Franzisko, Sein Sendschreiben an die Zentralorganisation für einen dauerhaften Frieden im Haag und sein Brief an Professor Auguste Forel, den Schweizer Wissenschaftler. In vielen öffentlichen Ansprachen rief Er Amerikaner wie Europäer dazu auf, die Völker zu Frieden, Gerechtigkeit und sozialer Ordnung zu führen.
Laura Bamey zeichnete in »Beantwortete Fragen« Abdu'l-Bahás Erläuterungen auf, die sich auf die Propheten, die Bestimmung des Menschen, seine Eigenschaften und Kräfte, auf die Unsterblichkeit und das Leben nach dem Tod bezogen. »Beantwortete Fragen« wird seit langem als vorzügliche Einführung in die umfassende Religion des neuen Zeitalters geschätzt.
*Der vorliegende Text, so vorausschauend und grundsätzlich er auch sein mochte, hat nicht unmittelbar mit der Sendung zu tun, die Abdu'l-Bahá zwischen 1892 und 1921 als Oberhaupt der Bahá'í-Weltgemeinschaft erfüllte. »Das Geheimnis göttlicher Kultur« ist eine Botschaft an die Machthaber und das Volk Persiens, eines Landes, dessen einstmals ruhmreiche Kultur durch die Korruption seiner Regierung, die Unwissenheit seiner Massen und die Preisgabe der Grundwahrheiten seiner Religion in jämmerliche Schwäche verkehrt worden war. Frei von jedem persönlichen Ressentiment ob der Grausamkeit, mit der sein Vaterland ihn selbst verfolgte, bietet Abdu'l-Bahá Persien in dieser Arbeit den reichen Schatz seines erleuchteten Wissens um die Ursachen für den Aufstieg und den Niedergang der menschlichen Kultur, einen scharfsichtigen Reiseführer für den Weg zu künftiger Größe und das Modell einer wirklichen Gesellschaftsordnung an.
So sehr die kostbare Gabe von denen, für die sie bestimmt war, mißachtet wurde, läßt sich Abdu'l-Bahás Botschaft dennoch umfassend auf den Allgemeinzustand der modernen Zivilisation anwenden, die mit ihrem traditionellen Imperialismus, Nationalismus, Rassismus, Materialismus und mit ihrem Sektierertum die Menschheit an den Rand der schlimmsten Katastrophe gebracht hat, wie es in den prophetischen Textstellen der heiligen Schriften aller noch lebenden Religionen vorhergesagt wurde, »Das Geheimnis göttlicher Kultur« ist für den Studenten der Sozialwissenschaften demnach eine Abhandlung, die die breite Lücke zwischen politisch-ökonomischer Technik und dem eigentlichen Sinn der Erschaffung des Menschen, der Errichtung von Gerechtigkeit in dieser Welt, schließt.
Um zu begreifen, wie Abdu'l-Bahá geistige Wahrheit in gesellschaftliche Programme umformt, muß sich der Leser nur dieser oft zitierten Stelle (Deutsch S.62 bzw Engl p.64) zuwenden:
»Wahre Kultur wird ihr Banner mitten im Herzen der Welt entfalten, sobald eine gewisse Zahl ihrer vorzüglichen und hochgesinnten Herrscher - leuchtende Vorbilder der Ergebenheit und Entschiedenheit - mit festem Entschluß und klarem Blick daran geht, den Weltfrieden zu stiften. sie müssen die Friedensfrage zum Gegenstand allgemeiner Beratung machen und mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln versuchen, einen Weltvölkerbund zu schaffen. sie müssen einen verbindlichen Vertrag und einen Bund schließen, dessen Verfügungen vernünftig, unverletzlich und bestimmt sind. Diesen Vertrag müssen sie der ganzen Welt bekanntgeben und die Bestätigung der gesamten Menschenrasse für ihn erlangen.»
»Ein derart erhabenes und edles Unternehmen - der wahre Quell des Friedens und Wohlergehens für alle Welt - sollte allen, die auf Erden wohnen, heilig sein.«
»Alle Kräfte der Menschheit müssen frei gemacht werden, um die Dauer und Beständigkeit dieses größten aller Bündnisse zu sichern ... Die Hauptgrundlage dieses feierlichen Vertrages sollte so verankert werden, daß bei einer späteren Verletzung irgendeiner Bestimmung durch irgendeine Regierung sich alle Regierungen der Erde erheben, um jene wieder zu voller Unterwerfung unter den Vertrag zu bringen, nein, die Menschheit als Ganzes sollte sich entschließen, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln jene Regierung zu vernichten. Wird dieses größte aller Heilmittel auf den kranken Körper der Welt angewandt, so wird er sich gewiß wieder von seinen Leiden erholen und dauernd bewahrt und heil bleiben.«
Für Abdu'l-Bahá ist die Kultur ein Organismus, der von einem alldurchdringenden, steuernden Geist getragen wird, ein Organismus, dessen Zellen und Organe niemals gleich sein können, aber jeweils besondere Aufgaben für den ganzen Körper wahrzunehmen haben. Das Streben nach übertriebener Gleichheit ist eine Fehlauslegung des Prinzips der Gerechtigkeit. Nur in der Einheit ist Erfüllung zu finden; denn Einheit ist der eine Geist, der die Verschiedenartigkeit der Menschen beseelt.
Dieser alles durchdringende Geist kann nicht durch äußeren Druck geschaffen werden; niemals wird er irgendeine Partei oder Sekte ans Ziel ihrer Wünsche führen. Er hat sich in der Geschichte durch den Geist des Glaubens geoffenbart, wie ihn die Propheten ihren ersten Jüngern so sehr eingegeben haben, daß diese Jünger alle persönliche Gier der Liebe zu Gott opferten. Dieser Geist ist Ausdruck der Liebe Gottes für die Menschheit; sein Licht wurde bislang verfinstert durch die geringeren, trennenden, zeitgebundenen Treuepflichten, die auf des Menschen Herz Ansprüche erhoben.
Weil Abdu'l-Bahá in diesem alles durchdringenden, allumfassenden Geist lebte, weil 'Abdu'l-Bahá in sich selbst die verschiedenen Kräfte, die die Menschen durch Wissenschaften, Künste, Philosophien, Handelsinteressen, Berufsbilder und Staatskunst ausdrücken, vereinte und versöhnte, konnte Er das göttliche Element der Kultur begreifen und zum ersten Bürger im Weltgemeinwesen aller Menschen werden. in Seiner Begriffswelt entdecken wir dieses Weltgemeinwesen, jeder für sich und jeder für seine Mitmenschen. Abdu'l-Bahá hat die von den Propheten geoffenbarten erhabenen Wahrheiten in das Leben unserer Zeit gebracht.
Dem abendländischen Leser wird auffallen, daß 'Abdu'l-Bahá Quran-Stellen verwendet, um die geistigen Bedeutungsmöglichkeiten seines Themas aufzubauen und um an das Gewissen der islamischen Nation Persien zu appellieren. Der Quran ist im Westen immer noch wenig bekannt; die von Abdu'l-Bahá zitierten Textstellen sollten dem westlichen Leser in einer Zeit, da Europa und Amerika so dringend mehr Verständnis für den Orient brauchen, Anlaß bieten, sich mit dem Wesensgehalt dieses heiligen Buches vertraut zu machen.
nach HORACE HOLLEY (Juli 1956)Einen anderen Blickpunkt auf die Reformversuche in Persien um 1875 eröffnet das Buch »Ein Harem in Bismarcks Reich, Das ergötzliche Reisetagebuch des Nasreddin Schah«, herausgegeben von Hans Leicht, Horst Erdmann Verlag, Tübingen/Basel 1969. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß dieser arrogante Herrscher die meisten der über 20 000 Bábí- und Bahá'í-Märtyrer auf dem Gewissen hat, ist der Vergleich seiner Betrachtungen mit der politischen Weisheit Abdu'l-Bahás besonders aufschlußreich.
#13Im Namen Gottes, des Mildtätigen, des Barmherzigen!
Preis und Dank seien der Vorsehung, daß sie aus allen Reichen der Schöpfung den Menschen in seiner Wesenheit auserwählt und ihn mit Verstand und Weisheit, den beiden strahlendsten Lichtquellen in dieser und der anderen Welt, ausgezeichnet hat. Durch das Wirken dieser großen Gnadengabe hat Gott in jedem Zeitalter wunderbare neue Formen im Spiegel der Schöpfung erstehen lassen. Wenn wir diese Welt unvoreingenommen betrachten, wird uns klar, daß der Tempel des Seins zu allen Zeiten beständig verziert und geschmückt wurde mit frischer Anmut und ewig-neuem Glanz, die von der Weisheit und der Kraft des Denkens herrührten. Dieses größte Zeichen Gottes steht an erster Stelle in der Schöpfungsordnung und nimmt auf höchster Stufe den Vorrang vor allen erschaffenen Dingen ein; dies bezeugt die heilige Überlieferung: »Vor allem anderen schuf Gott den Verstand.« Seit Anbeginn der Schöpfung war der Verstand dazu bestimmt, sich im Menschen zu offenbaren.
Geheiligt ist der Herr, der durch die leuchtenden Strahlen dieser übernatürlichen Himmelsmacht bewirkte, daß unsere dunkle Erde von den Welten des Lichts beneidet wird: »Und die Erde wird leuchten im Lichte ihres Herrn« (Quran 39:69). Heilig und erhaben ist Er, der das Wesen des Menschen zum Dämmerort dieser grenzenlosen Gnade machte: »Der Gott des Erbarmens hat den Quran gelehrt. Er hat den Menschen erschaffen und hat ihn die vernünftige Sprache gelehrt« (Quran 55:1-3).
O ihr, die ihr Verstand habt zu begreifen! Erhebt eure flehenden Hände zum Himmel des einen Gottes, seid demütig, beugt euch vor ihm und dankt ihm für diese höchste Gabe. Dann bittet ihn, uns beizustehen, auf daß in unserer heutigen Zeit himmlische Impulse vom Bewußtsein der Menschheit ausstrahlen und dieses Feuer, von Gott entzündet und den Menschenherzen anvertraut, nimmer erlösche.
Bedenket wohl: All die weitverzweigten Erscheinungen, die Begriffe und Erkenntnisse, die Verfahren der Technik und die Systeme der Philosophie, die Wissenschaften, Künste, Gewerbe und Erfindungen - alle sind Ausstrahlungen des menschlichen Verstandes. Jedes Volk, das sich weiter in dieses uferlose Meer hineinwagte, hat am Ende die anderen Völker überragt. Glück und Stolz einer Nation bestehen darin, daß sie wie die Sonne am Himmel des Wissens erstrahlt. »Sollen die, welche erkennen, gleich behandelt werden wie die, welche in Unwissenheit leben?« (Quran 39:12). Und Ehre und Würde des einzelnen liegen darin, daß er vor all den Massen der Weltbewohner zu einer Quelle des gesellschaftlichen Wohles wird. Gibt es eine größere Gnade als die, daß ein Mensch, wenn er in sich geht, feststellen darf, daß er, durch göttliche Gunst bestätigt, Frieden und Wohlfahrt, Glück und Nutzen unter seinen Mitmenschen bewirkte? Nein, bei dem einen wahren Gott! Es gibt keine größere Freude, kein vollkommeneres Glück.
#14Wie lange werden wir noch auf den Flügeln der Leidenschaft und der eitlen Begierde dahingleiten? Wieviele Tage werden wir noch wie die Barbaren in den Tiefen der Unwissenheit und der Gemeinheit verbringen? Gott hat uns Augen gegeben, damit wir uns in der Welt umschauen und alles festhalten, was unsere Kultur und unsere Lebenskunst voranbringt. Er hat uns Ohren gegeben, damit wir zu unserem Nutzen auf die Weisheit der Gelehrten und Philosophen hören und uns aufmachen, ihre Lehren zu fördern und in die Tat umzusetzen. sinne und Fähigkeiten sind uns verliehen worden, damit wir sie dem Dienst am allgemeinen Wohl weihen, so daß wir, die wir uns durch Wahrnehmungsvermögen und Verstand hoch über alle anderen Lebensformen erheben, uns allezeit und in jeder Hinsicht, bei wichtigen und bei nebensächlichen Anlässen, in normalen oder außergewöhnlichen Verhältnissen, darum mühen, die ganze Menschheit sicher in der unbezwingbaren Feste des Wissens zu versammeln. Unablässig sollen wir neue Grundlagen des menschlichen Glückes legen, fortgesetzt sollen wir neue Werkzeuge schaffen und alte verbessern, um dieses Ziel zu erreichen. Wie erhaben, wie hochgeehrt ist ein Mensch, wenn er sich aufmacht, seinen Pflichten nachzukommen; wie erbärmlich und gemein ist er, wenn er seine Augen vor dem Wohlergehen der Gesellschaft verschließt und sein kostbares Leben damit vergeudet, selbstischen Interessen und persönlichem Nutzen nachzujagen! Der Mensch wird höchstes Glück erlangen und die Zeichen Gottes in der Welt und in der Menschenseele schauen, wenn er auf dem Schlachtroß hehren Bestrebens in die KampfBahá der Kultur und der Gerechtigkeit prescht. »Wir werden ihnen wahrlich Unsere Zeichen zeigen, in der Welt und in ihnen selbst« (Quran 41:53).
Und dies ist des Menschen schlimmste Erbärmlichkeit: träge, teilnahmslos, stumpf, nur mit seinen eigenen primitiven Nöten befaßt dahinzuleben. Wenn er so ist, vegetiert er in tiefster Unwissenheit und Wildheit und sinkt unter die rohesten Tiere ab. »Sie sind wie das Vieh. Ja, weit ärger sind sie abgeirrt ... Denn die niedrigsten Tiere vor Gottes Angesicht sind die Tauben und Stummen, die nicht verstehen« (Quran 7:178 und 8:22).
Wir müssen den hochgesinnten, festen Entschluß fassen, uns zu erheben und alle jene Werkzeuge in den Griff zu bekommen, die Frieden, Wohlstand und Glück, Erkenntnis, Kultur und Gewerbefleiß, Würde, Wert und Stufe der gesamten Menschheit vorantreiben. Durch die belebenden Wasser reiner Absicht und selbstlosen Bemühens wird der Boden menschlicher Anlagen vom Blütenmeer seiner eigenen bislang verborgenen Vortrefflichkeiten übersät, er wird rühmenswerte Eigenschaften hervorbringen, blühen und Frucht tragen, bis er sich mit dem Rosengarten der Erkenntnis messen kann, den unsere Vorväter besessen haben. Dann wird dieses heilige Land Persien in jeder Hinsicht ein Brennpunkt menschlicher vollkommenheiten; wie ein Spiegel wird es den vollen Ornat der Weltkultur ausstrahlen.
Alle Ehre und Preis seien dem Tagesanbruch göttlicher Weisheit, dem Dämmerort der Offenbarung (Muhammad) und dem heiligen Geschlecht seiner Nachkommen; denn durch die weitreichenden Strahlen seiner höchsten Weisheit, durch seine umfassende Erkenntnis wurden die wilden Bewohner von Yathrib (Medina) und Bathá (Mekka) wundersam in kürzester Zeit aus den Tiefen ihrer Unwissenheit befreit, um sich zu den Gipfeln der Gelehrsamkeit zu erheben. sie wurden Mittelpunkte der Künste, Wissenschaften und menschlichen Vollkommenheiten, Sterne der Glückseligkeit und der wahren Kultur, die den ganzen Horizont der Welt überstrahlten.
#16Seine Majestät der Schah hat sich gegenwärtig (1875) entschlossen, den Fortschritt des persischen Volkes, seine Wohlfahrt und Sicherheit und das Gedeihen des Landes in die Wege zu leiten. Aus eigenem Antrieb hat er seinen Untertanen Hilfe gewährt, Energie und Unparteilichkeit entfaltet, wobei er hofft, er könne den Iran durch das Licht der Gerechtigkeit zum Neid für Ost und West gestalten und jenen hehren Eifer, der die ersten großen Epochen der persischen Geschichte auszeichnete, erneut durch die Adern des persischen Volkes pulsen lassen. Dies hat dem Verfasser aus Gründen, die dem verständnisvollen Betrachter einleuchten werden, die Notwendigkeit vor Augen geführt, allein Gott zuliebe und als Beitrag zu jenen hochgesinnten Bemühungen eine kurze Abhandlung über gewisse dringliche Fragen zu Papier zu bringen. Um darzulegen, daß sein einziger Vorsatz die Förderung des allgemeinen Wohls ist, hat er seinen Namen verschwiegen¹. In dem Glauben, daß die Hinführung zur Rechtschaffenheit in sich selbst ein rechtschaffener Akt ist, bietet er diese wenigen Worte der Beratung den Söhnen seines Landes dar - Worte, die nur um Gottes willen im Geist der Liebe eines getreuen Freundes gesprochen sind. Unser Herr, der alles kennt, ist Zeuge, daß dieser Diener nichts sucht als das, was recht und gut ist. Ein Wanderer in den Wüsten der Liebe zu Gott, ist er in ein Königreich aufgestiegen, wo ihn die Hand der Ablehnung oder der Zustimmung, des Lobes oder des Tadels, nicht mehr berühren kann. »Wir nähren eure Seelen um Gottes willen; wir suchen von euch weder Belohnung noch Dank« (Quran 76:9).
Die Hand ist verborgen, doch die Feder schreibt auf ihr Geheiß.
Das Roß setzt an zum Sprung, auch wenn des Reiters Namen niemand weiß.
¹ Das persische, 1875 niedergeschriebe Original trägt keinen Hinweis auf den Verfasser; die erste englische Übersetzung wurde 1910 unter dem Titel »The Mysterious Forces of Civilization« mit dem Vermerk veröffentlicht: »in Persisch von einem bedeutenden Bahá'í-Philosophen verfaßt«.
#17O Volk Persiens! Schau in die goldenen Seiten deiner Geschichte, die von einem anderen Tag, einer längst vergangenen Zeit berichten. Lies sie und wundere dich; nimm teil an dieser großen Schau. In jenen Tagen war der Iran gleichsam das Herz der Welt, eine helle Fackel im Rat der Menschheit. Persiens Macht und Herrlichkeit erstrahlten wie der Morgen über den Horizonten der Welt; der Glanz seiner Gelehrsamkeit übergoß den Osten und den Westen. Bis zu den Bewohnern des Polarkreises drang die Kunde vom weitgespannten Reich derer, die Persiens Krone trugen, und der Ruhm der ehrfurchtgebietenden Gegenwart des Königs der Könige demütigte die Herrscher Griechenlands und Roms. Die größten Philosophen der Welt waren erstaunt über die Weisheit persischer Staatskunst; das politische System Persiens wurde zum Modell aller Könige in den vier Erdteilen, die damals bekannt waren. Bei allen Völkern war Persien berühmt für die Reichweite seiner Herrschaft, von allen wurde es verehrt wegen seiner ruhmvollen Kultur und Zivilisation. Persien war gleichsam Angelpunkt der Welt, Quelle und Mittelpunkt der Künste und Wissenschaften, Ursprung großer Erfindungen und Entdeckungen, Schatzberg menschlicher Tugenden und Vollkommenheiten. Der Verstand und die Weisheit der Angehörigen dieser überragenden Nation blendete den Sinn anderer Völker; das geistige Feuer und die Auffassungsgabe, die diese edle Rasse auszeichneten, weckten den Neid der ganzen Welt.
#18Abgesehen von den Aufzeichnungen der persischen Geschichtswerke steht im Alten Testament, heute unter allen Völkern Europas als heiliger kanonischer Text anerkannt, daß sich zur Zeit Kyros II., der in den iranischen Werken Bahman, Sohn des Isfandíyár, heißt, die 360 Provinzen des persischen Großreiches von den chinesisch-indischen Grenzbezirken bis nach Jemen und Äthiopien erstreckten¹. Die Griechen berichten, wie dieser stolze Herrscher mit einer ungeheueren Heerschar gegen sie zog und ihr eigenes, bis dahin siegreiches Land im Staube zurückließ. Er brachte die Pfeiler aller Herrscherhäuser ins Wanken; nach einem maßgeblichen arabischen Werk, der Geschichte des Abu'l-Fidá, riß er die Herrschaft über die ganze bekannte Welt an sich. Im selben Werk ist auch verzeichnet, daß Firaydún, eilt König der Píshdádíyán-Dynastie - der für seine angeborenen Vollkommenheiten, sein Urteilsvermögen, sein weites Wissen und die lange Reihe seiner fortgesetzten Siege unter allen Vorgängern und Nachfolgern auf dem Thron hervorragt - die ganze bekannte Welt unter seinen drei Söhnen teilte.
¹ 2.Chronik 36:22-23; Esra 1:2, Ester 1:1, 8:9, Isaias 45:1, 14, 49:12
Die Geschichtsbücher der aufgeklärtesten Völker der Welt bezeugen, daß die erste Regierung auf Erden, das erste Weltreich unter den Nationen Persiens Thron und Kronjuwel gewesen ist.
O Volk Persiens! Erwache aus deiner Schlaftrunkenheit! Erhebe dich aus deiner Stumpfheit! sei gerecht in deinem Urteil: Läßt es das Gebot der Ehre zu, daß dieses heilige Land, einstens die Quelle der Weltkultur, der Ursprung von Ruhm und Glück für die ganze Menschheit, der Neid von Ost und West, noch lange ein Gegenstand des Mitleides bleibt, beklagt von allen Nationen? Die Perser waren einst das edelste Volk; wollt ihr es zulassen, daß die Zeitgeschichte für künftige Geschlechter seine völlige Erniedrigung festhält?
#19Wollt ihr selbstzufrieden das gegenwärtige Elend Persiens hinnehmen, wo dieses Land doch einstmals die Sehnsucht der ganzen Menschheit war? Sind es nicht Würdelosigkeit und Faulheit, mangelnde Kampfbereitschaft, nackte Unwissenheit, die dazu zwingen, dieses Land zur rückständigsten aller Nationen zu erklären?
Waren nicht die Perser in längst versunkenen Zeiten die Stirn des Verstandes und der Weisheit unter den Völkern? Strahlten sie nicht mit der Gunst Gottes wie der Morgenstern vom Horizont göttlicher Erkenntnis? Wie kommt es, daß wir uns heute mit diesem elenden Zustand zufriedengeben, völlig gefangen in unseren zügellosen Leidenschaften, daß wir uns selbst die Augen verbinden vor der höchsten Glückseligkeit, vor dem, was Gott wohlgefällt, daß wir alle gefesselt sind von unseren selbstischen Interessen, ständig auf der Jagd nach niederen, persönlichen Vorteilen?
Dieses schönste aller Länder war einst ein Leuchtfeuer, das die Strahlen göttlicher Erkenntnis, der Kunst und Wissenschaft, des Edelsinns und höchster Errungenschaften, der Weisheit und des Heldenmuts über die Welt ergoß. Heute ist dieses helle Glück völlig verfinstert, ist dieses Licht der Finsternis gewichen, so starr, stumpf und träge ist das Volk, so zügellos das öffentliche Leben, so gänzlich fehlt es an Stolz und Ehrgeiz. »Die sieben Himmel und die sieben Welten weinen über den Mächtigen, wenn er zu Fall gekommen ist.«
Keiner soll sich einbilden, dem persischen Volk mangele es, erblich bedingt, an Verstand, es sei an Wahrnehmungsvermögen für das Wesentliche, an Verständnis, angeborenem Scharfsinn, Eingebung, Weisheit und verborgenen Fähigkeiten anderen Völkern unterlegen. Gott bewahre! Ganz im Gegenteil haben die Perser immer alle anderen Völker übertroffen, was das angeborene Erbgut anbelangt. Das Land selbst ist durch sein gemäßigtes Klima und seine Naturschönheiten, seine geographischen Vorteile und seine Bodenschätze in höchstem Maße gesegnet. Was dieses Land jedoch dringend benötigt, sind tiefes Nachdenken, entschlossenes Handeln, Bildung, Eingebung und Ermutigung. Das Volk muß sich gewaltig anstrengen, sein Stolz muß geweckt werden.
#20Unter den fünf Kontinenten des Erdballs sind heute Europa und weite Teile Amerikas für Gesetz und Ordnung, Staatskunst und Handel, Künste und Gewerbe, Wissenschaft, Philosophie und Erziehungswesen berühmt. In alten Zeiten waren dies die wildesten, rohesten und unwissendsten Völker der Welt; sie wurden sogar als Barbaren, das heißt als völlig roh und unkultiviert, verachtet. überdies herrschten vom fünften bis zum fünfzehnten Jahrhundert nach Christi Geburt, in der Zeit, die man Mittelalter nennt, unter den Völkern Europas schlimme Kämpfe und so wilde Unruhen, so grausame Auseinandersetzungen und schreckliche Schandtaten vor, daß die Europäer diese zehn Jahrhunderte mit Recht als ein Zeitalter der Finsternis beschreiben. Die Grundlage des Fortschritts in Europa wurde tatsächlich erst im 15. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung gelegt; von dieser Zeit an war die ganze heute sichtbare Kultur Europas unter dem Ansporn großer Geister, durch die Ausweitung der Grenzen des Wissens und durch energischen, ehrgeizigen Einsatz in der Entwicklung begriffen.
Mit der Gunst Gottes und durch den geistigen Einfluß seiner universalen Manifestation hat der redliche Herrscher des Iran sein Volk unter dem Schutz der Gerechtigkeit versammelt, und die Aufrichtigkeit des kaiserlichen Vorsatzes hat sich in hoheitlichen Maßnahmen gezeigt. In der Hoffnung, seine Regierung werde es mit der ruhmreichen Vergangenheit aufnehmen können, bemühte er sich, Gleichberechtigung und Redlichkeit zu begründen, überall in diesem edlen Land die Bildung zu fördern, die Zivilisation voranzutreiben und all das aus dem Bereich des Möglichen in die Wirklichkeit herüberzuholen, was den Fortschritt der Nation sichern wird. Bislang haben wir noch keinen Monarchen gesehen, der die Zügel der Staatsangelegenheiten in so fähigen Händen hielt, von dessen hoher Entschlußkraft die Wohlfahrt aller seiner Untertanen abhängt, der, wie es ihm zukommt, als ein gütiger Vater seine Bemühungen auf die Bildung und Kultivierung seines Volkes lenkt, der den Wohlstand und den Seelenfrieden seiner Untertanen zu sichern sucht und ihren Interessen die nötige Aufmerksamkeit zuwendet; dieser Diener und seinesgleichen haben sich deshalb bislang zurückgehalten. Nunmehr jedoch ist es allen mit Unterscheidungsvermögen Begabten offenkundig, daß sich der Schah aus eigenem Antrieb entschlossen hat, eine gerechte Regierung aufzubauen und den Fortschritt aller seiner Untertanen zu sichern. seine ehrenwerte Absicht hat den Anstoß zu der vorliegenden Abhandlung gegeben.
#21Es ist in der Tat seltsam, wie manche, statt dankbar für diesen Segen zu sein, der wahrhaft der Gunst Gottes, des Allmächtigen, entspringt, indem sie sich wie ein Mann erheben und dafür beten, daß diese edlen Vorsätze sich täglich vervielfachen mögen - wie manche, deren Verstand durch persönliche Beweggründe verdorben, deren Wahrnehmungsvermögen von Selbstsucht und Eitelkeit umwölkt, deren Lebenskräfte der Fron ihrer Leidenschaften hingegeben, deren Selbstbewußtsein vom Willen zur Macht verbildet ist, wie solche Menschen das Banner des Widerstands aufpflanzen und sich in lauten Klagen ergehen. Früher haben sie den Schah getadelt, weil er sich nicht selbst für die Wohlfahrt seines Volkes einsetzte und ihm nicht Frieden und Wohlstand zu bringen suchte. Nun, da er diesen großen Plan gefaßt hat, schlagen sie einen anderen Ton an. Einige sagen, dies seien neumodische Methoden und fremde Ismen, die in keinerlei Beziehung zu den gegenwärtigen Nöten und den alten Bräuchen Persiens stünden. Andere scharen die hilflosen Massen um sich, die nichts von der Religion, ihren Gesetzen und Grundsätzen wissen und deshalb kein Unterscheidungsvermögen besitzen, und reden ihnen ein, diese modernen Methoden seien die Art der Heiden und stünden dem verehrten Schrifttum des wahren Glaubens entgegen; dem fügen sie hinzu: »Wer ein Volk nachahmt, gehört ihm an«. Eine Gruppe von ihnen besteht darauf, die Reformen müßten mit der größten Behutsamkeit, Schritt für Schritt, vorangetrieben werden; jede Übereilung sei unstatthaft. Andere beharren darauf, nur solche Maßnahmen, die die Perser selbst ausgedacht haben, dürften übernommen werden; sie selbst sollten ihre politische Verwaltung, ihr Bildungssystem und ihren Kulturzustand reformieren und es gebe keine Notwendigkeit, Verbesserungen von anderen Nationen auszuborgen. Kurz, jede Partei folgt ihrer eigenen Illusion.
+22O Volk Persiens! Wie lange wollt ihr noch umherirren? Wie lange muß eure Verwirrung noch fortdauern? Wie lange soll es mit diesen Meinungsverschiedenheiten, diesem nutzlosen Widerstreit, dieser Unwissenheit, dieser Denkfaulheit noch weitergehen? Andere sind hellwach, und wir schlafen unseren traumlosen Schlaf. Andere Nationen unternehmen jede Anstrengung, um ihre Verhältnisse zu verändern und zu verbessern; wir sind in unseren Leidenschaften und in unserer Genußsucht befangen und stolpern mit jedem Schritt in eine neue Schlinge.
Gott ist unser Zeuge, daß wir keinen Hintergedanken haben, wenn wir dieses leidige Thema aufgreifen. Weder suchen wir uns bei irgendjemandem einzuschmeicheln oder jemanden an uns zu ziehen, noch erwarten wir irgendwelchen materiellen Nutzen daraus. Wir sprechen nur als einer, der ernsthaft das Wohlgefallen Gottes sucht, denn wir haben unseren Blick von der Welt und ihren Völkern abgewandt und in der schützenden Fürsorge des Herrn Zuflucht gesucht. »Nicht verlange ich von euch einen Lohn hierfür ... Mein Lohn ist bei Gott allein« (Quran 6:90 und 11:31).
Jene, die die modernen Vorstellungen nur auf andere Länder angewandt wissen möchten und meinen, sie seien für den Iran unwichtig, sie befriedigten unsere Bedürfnisse nicht und paßten nicht zu unserer Lebensart, jene Leute vernachlässigen die Tatsache, daß andere Nationen einst genau so waren, wie wir heute sind. Haben diese neuen Systeme und verfahren, diese fortschrittlichen Unternehmungen nicht zur Entwicklung jener Länder beigetragen? Hat es den Menschen in Europa geschadet, daß sie solche Maßnahmen ergriffen? Haben sie nicht vielmehr dadurch die höchste Stufe materieller Entwicklung erlangt? Stimmt es etwa nicht, daß das persische Volk seit Jahrhunderten so lebt, wie wir es heute leben und die Verhaltensmuster der Vergangenheit ausführen sehen? Hat dies zu irgendeinem meßbaren Nutzen geführt? sind irgendwelche Fortschritte gemacht worden? Da diese Fragen nicht durch die Erfahrung geprüft worden sind, können Zeitgenossen, in deren Köpfen das Licht natürlicher Intelligenz umwölkt ist, sie müßig beiseite schieben. in anderen Ländern dagegen sind die Voraussetzungen des Fortschritts unzählige Male unter jedem Gesichtspunkt auf die Probe gestellt worden; ihr Nutzen ist dort so klar dargestellt, daß ihn der schwerfälligste Kopf fassen kann.
#23Laßt uns gerecht und unvoreingenommen darüber nachdenken! Laßt uns die Frage stellen, welcher dieser Grundsätze, welche dieser gesunden, wohlbegründeten Verfahrensweisen unseren gegenwärtigen Nöten nicht abhelfen könnte, den besten politischen Interessen Persiens widerspräche oder dem allgemeinen Wohlergehen des Volkes schadete. Wären die Ausdehnung des Bildungswesens, die Entwicklung nützlicher Künste und Wissenschaften, die Förderung von Industrie und Technik etwas schädliches? Solche Bemühungen heben doch den einzelnen Menschen inmitten der Masse empor und führen ihn aus den Tiefen der Unwissenheit zu den GipfeIn der Erkenntnis und der Vortrefflichkeit. Würde der Aufbau einer gerechten Gesetzgebung im Einklang mit den göttlichen Gesetzen, die das Glück der Gesellschaft sichern, alle Menschenrechte schützen und einen unüberwindlichen Wall gegen die Gewalttätigkeit bilden - würde eine solche Verfassung, die für die Unversehrtheit der Gesellschaftsglieder und für ihre Gleichheit vor dem Gesetz Gewähr bietet, ihre Wohlfahrt und ihren Erfolg behindern?
Oder wenn man durch den richtigen Gebrauch der eigenen Wahrnehmungsfähigkeiten Schlüsse aus den gegenwärtigen Verhältnissen und aus den Meinungen, die sich durch Kollektiverfahrung gebildet haben, ziehen kann, wenn man dadurch Gegebenheiten, die heute erst als Möglichkeit vorhanden sind, als künftige Wirklichkeiten vorausschauen kann, wäre es dann unvernünftig, heute Maßnahmen zu ergreifen, die unsere künftige Sicherheit garantieren? Erscheint es kurzsichtig, unvorsichtig oder irrig, ist es eine Abkehr von dem, was recht und billig ist, wenn wir unsere Beziehungen zu Nachbarländern festigen, bindende Verträge mit den Großmächten eingehen, Freundschaft und Partnerschaft mit friedliebenden Regierungen pflegen, auf den Handelsaustausch mit den Nationen in Ost und West achten, unsere Bodenschätze entwickeln und den Wohlstand unseres Volkes mehren?
#24Wäre es die ewige Verdammnis für unsere Untertanen, wenn die Provinz- und Bezirksgouverneure ihrer heutzutage absoluten Macht entblößt würden, durch die sie schalten und walten, wie es ihnen paßt, wenn sie statt dessen auf Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit verpflichtet würden, wenn Todesurteile und Kerkerstrafen, die sie verhängen, der Bestätigung durch den Schah und durch übergeordnete Gerichte in der Hauptstadt unterworfen würden, die den Fall zuvor gründlich prüfen, Art und Gewicht des Verbrechens bestimmen und dann eine gerechte, vom souverän durch Erlaß bestätigte Entscheidung fällen und zurückreichen müßten? Wenn Bestechung und Korruption, heute unter den wohlklingenden Namen Geschenke und Vergünstigungen bekannt, für alle Zeit beseitigt würden, wäre das eine Bedrohung für die Grundmauern der Gerechtigkeit? Wäre es ein Zeichen geistiger Umnachtung, die Soldaten, die doch lebendige Opfer von Volk und Staat sind, ständig bereit, dem Tod ins Auge zu schauen, aus ihrer heutzutage unvorstellbaren Not und Armut zu befreien, angemessene Vorkehrungen für ihre Ernährung, Kleidung und Unterbringung zu treffen und keine Mühe zu scheuen, ihre Offiziere in der Militärwissenschaft zu unterweisen und die Armee mit den modernsten Gewehren und anderen Waffen auszustatten?
Wollte jemand einwenden, solche Reformen seien bis jetzt nie ganz zu Ende geführt worden, dann müßte er dieser Frage unvoreingenommen nachgehen und feststellen, daß Unzulänglichkeiten auf dem völligen Fehlen einer geschlossenen öffentlichen Meinung sowie auf dem Mangel an Einsatzbereitschaft, Entschlossenheit und Ergebenheit bei den Führern des Landes beruhen. Offensichtlich kann das Land erst dann ordnungsgemäß verwaltet werden, wenn das Volk erzogen, die öffentliche Meinung genau beobachtet, die Regierungsbeamten, selbst der unteren Grade, von der Korruption völlig befreit werden. Erst wenn Zucht, Ordnung und gute Regierung eine Stufe erreichen, auf der es einem Bürger auch mit äußerster Anstrengung nicht gelänge, um Haaresbreite vom Pfade der Rechtschaffenheit abzuweichen - erst dann können die gewünschten Reformen als abgeschlossen betrachtet werden.
Überdies ist jede gesellschaftliche Struktur, und wäre sie auch das Werkzeug für der Menschheit höchstes Wohl, des Mißbrauchs fähig. ihr richtiger oder falscher Gebrauch hängt von den wechselnden Graden der Aufklärung, Fähigkeit, Treue Redlichkeit, Hingabe und Vorstellungskraft bei den Führern der öffentlichen Meinung ab.
#25Der Schah hat seinen Teil getan; die Ausführung der nützlichen Maßnahmen, die vorgeschlagen wurden, ist nun in die Hände derjenigen Personen gelegt, die in den Beratungsgremien arbeiten. Wenn diese Menschen ihre Reinheit und Vorstellungskraft erweisen, wenn sie sich vom Makel der Korruption frei halten, werden die Bestätigungen Gottes sie zu einer nie versiegenden Quelle des Segens für die Menschheit machen. Gott wird ihren Lippen und ihren Federn entströmen lassen, was dem ganzen Volk zum Segen gereicht, bis jeder Winkel des edlen Iran von ihrer Gerechtigkeit und Redlichkeit erleuchtet ist und die Strahlen dieser Erleuchtung die ganze Erde umhüllen. »Dies wird Gott kein schweres sein« (Quran 14:23 und 35:18).
Andernfalls ist es klar, daß die Ergebnisse sich als unannehmbar erweisen werden, hat es sich doch in gewissen fremden Ländern gezeigt, daß neuerrichtete Parlamente das Volk in Wirklichkeit entmutigten und verwirrten und daß selbst gutgemeinte Reformen sich schlecht auswirkten. Die Errichtung von Parlamenten, der Aufbau beratender Körperschaften ist in Wahrheit die Grundlage der Staatsführung; solche Einrichtungen müssen jedoch eine Reihe wesentlicher Anforderungen erfüllen. Erstens müssen ihre gewählten Mitglieder redlich, gottesfürchtig, hochgesinnt und unbestechlich sein. Zum anderen müssen sie die Gesetze Gottes in allen ihren Einzelheiten kennen; sie müssen über die obersten Grundsätze des Rechts Bescheid wissen, in den Verfahrensregeln für innere Angelegenheiten und für auswärtige Beziehungen beschlagen und in den nutzbringenden Künsten und Wissenschaften bewandert sein. Schließlich müssen sie sich mit ihren rechtmäßigen Einkünften zufrieden geben.
#26Man soll nicht glauben, daß es solche Abgeordnete nicht gebe. Durch die Gnade Gottes und seiner Erwählten, durch das heiße Bemühen ergebener und eingeweihter Seelen läßt sich jede Schwierigkeit leicht lösen, und jedes noch so verwickelte Problem erweist sich als einfacher denn ein Augenzwinkern.
Wenn jedoch die Mitglieder derartiger beratender Körperschaften von minderwertigem Charakter, unwissend, über die Gesetze der Staatsführung und der Verwaltung nicht unterrichtet, wenn sie unklug, niedrig gesinnt, gleichgültig, nachlässig und eigennützig sind, ist die Errichtung solcher Organe nutzlos. Wo in der Vergangenheit ein armer Mann, der zu seinem Recht kommen wollte, nur einen einzelnen zu bestechen hatte, müßte er jetzt alle Hoffnung auf Gerechtigkeit fahren lassen oder aber das ganze Gremium befriedigen.
Eine eingehende Untersuchung wird belegen, daß die Hauptursache der Unterdrückung und des Unrechts, der Ehrlosigkeit, Regelwidrigkeit und Unordnung die Tatsache ist, daß es dem Volk an religiöser Überzeugung und an Erziehung mangelt. Wenn das Volk echt religiös, gebildet und geschult ist und es sieht sich zum Beispiel einer Schwierigkeit gegenüber, kann es sich an die Ortsbehörden wenden; trifft es dort nicht auf Gerechtigkeit und kann es nicht seine angemessenen Ansprüche durchsetzen, stellt es vielmehr fest, daß die örtliche Verwaltung im Widerspruch zu Gottes Wohlgefallen und zur Rechtlichkeit des Königs steht, dann kann das Volk seinen Fall der nächsten Gerichtsinstanz vortragen und die Abweichung der Ortsbehörden von den Gesetzen des Geistes darstellen. Das Gericht kann sich die Akten der Ortsbehörden über den Fall kommen lassen und Gerechtigkeit schaffen. Zur Zeit fehlen jedoch dem größten Teil der Bevölkerung aus Mangel an Schulbildung sogar die Worte, um ein Anliegen auszudrücken.
#27Und nun zu denen, die hier und da als Volksführer angesehen werden. Wir stehen erst am Anfang des neuen Verwaltungsprozesses, und diese Volksführer sind in ihrer eigenen Erziehung noch nicht genügend weit fortgeschritten, um die geistige Freude beim Spenden der Gerechtigkeit, die innere Heiterkeit bei der Förderung der Redlichkeit erlebt und gekostet zu haben; sie haben noch nicht von den Quellen eines wachen Bewußtseins und einer aufrechten Absicht gekostet. Es ist ihnen noch nicht richtig eingegangen, daß des Menschen höchste Ehre und wahres Glück in der Selbstachtung liegt, in hohen Entschlüssen und edlen Vorsätzen, in der Unversehrtheit und Sittlichkeit der Person, in der Reinheit des Denkens. stattdessen bilden sie sich ein, ihre Größe liege in der Anhäufung weltlicher Güter mit allen zu Gebote stehenden Mitteln.
Jeder Mensch sollte innehalten, nachdenken und gerecht urteilen: Sein Herr hat ihn aus unermeßlicher Gnade zu einem menschlichen Wesen gemacht und mit den Worten geehrt: »Wahrlich, Wir schufen den Menschen in schönster Gestalt« (Quran 95: 4). Er hat seine Barmherzigkeit aus der Dämmerung der Einheit aufsteigen und über dem Menschen strahlen lassen, bis dieser zum Brunnquell des Wortes Gottes, zum Offenbarungsort himmlischer Geheimnisse wurde. Am Morgen der Schöpfung fand er sich mit den Eigenschaften der Vollkommenheit und mit heiliger Anmut überstrahlt. Wie kann er dieses makellose Gewand mit dem Kot selbstischer Begierden besudeln, wie kann er diese ewige Ehre gegen Schande tauschen? »Wähnst du dich eine schwache Form, wo doch das Weltall in dir zusammengefaltet liegt?« (Imám Alí).
Wäre es nicht unser Anliegen, uns kurz zu fassen und unseren Hauptgegenstand zu entwickeln, würden wir hier von der Welt Gottes her die Grundthematik zusammenfassen:
Die Wirklichkeit des Menschen, seine hohe Stufe und der alles überragende Wert der menschlichen Rasse. Aber lassen wir dies für eine andere Gelegenheit!
#28Die höchste Stufe und den hehrsten Bereich, den vornehmsten und erhabensten Rang in der ganzen Schöpfung - ob sichtbar oder unsichtbar, ob Alpha oder Omega - nehmen die Propheten Gottes ein, trotz der Tatsache, daß sie größtenteils dem äußeren Anschein nach nichts als ihre Armut besaßen. Desgleichen ist den Heiligen und denen, die der Schwelle Gottes am nächsten sind, unaussprechliche Herrlichkeit vorbehalten, obwohl sich ihresgleichen niemals, und sei es auch nur für einen Augenblick, um irdischen Vorteil kümmerten. Dann kommt die Stufe jener gerechten Könige, deren Ruf als Beschützer des Volkes und als Wahrer göttlicher Gerechtigkeit die Welt erfüllte und deren Namen als machtvolle Verfechter der Rechte des Volkes in der ganzen Schöpfung widerhallte. Solche Könige vergeuden keinen Gedanken darauf, riesige Reichtümer für sich anzusammeln; sie sehen vielmehr ihren eigenen Reichtum in der Förderung des Wohlstands ihrer Untertanen. Für sie sind die königlichen Schatzkammern gefüllt, wenn jeder einzelne Bürger in Fülle und Behagen lebt. sie sind nicht stolz auf Gold und Silber, sondern auf ihre aufgeklärte Gesinnung und ihre Entschlossenheit, das Beste für die Allgemeinheit zu erreichen.
Als Rangnächste folgen jene hervorragenden und ehrenhaften Minister und Vertreter des Staates, die den Willen Gottes über ihren eigenen stellen und deren Fähigkeit und Weisheit in der Verwaltung ihrer Ämter die Staatskunst zu neuen Gipfeln der Vollkommenheit führt. sie erstrahlen in der Welt der Gebildeten wie Leuchten des Wissens; ihr Gedankenflug, ihre Haltung und ihre Taten veranschaulichen, wie sehr ihnen das Vaterland und sein Fortschritt am Herzen liegen. Mit maßvollen Bezügen zufrieden, widmen sie ihre Tage und Nächte der Erfüllung ihrer bedeutsamen Aufgaben und dem Ersinnen neuer Mittel und Wege, wie die Fortentwicklung des Volkes gesichert werden kann. Durch die Wirksamkeit ihres weisen Rates und durch ihr gesundes Urteil haben sie eh und je ihre Regierung zu einem Beispiel für alle anderen Regierungen der Welt werden lassen. ihre Hauptstadt ward zum Brennpunkt großer weltweiter Unternehmungen; sie selbst gewannen an Würde, erlangten ein überragendes Maß persönlicher Bedeutung und erklommen die höchsten Höhen des Ansehens und des Ruhmes.
#29Als nächste kommen jene berühmten, eingebildeten Gelehrten, die edle Eigenschaften und umfassendes Wissen in sich vereinigen, sich aber dennoch an die Leitschnur der Gottesfurcht halten und auf den Wegen des Heils bleiben. Im Spiegel ihres Geistes nehmen überstoffliche Wirklichkeiten Gestalt an, und die Lampe ihrer inneren Schau empfängt ihr Licht von der Sonne des allumfassenden Wissens. Tag und Nacht stehen sie im Dienste gründlicher Forschungen auf solchen Wissensgebieten, die von Nutzen für die Menschheit sind, und widmen sich der Unterweisung befähigter Studenten. Vor ihrem feinen Empfinden ließen sich alle Schätze der Könige, würden sie ihnen angeboten, nicht mit einem einzigen Tropfen aus den Wassern des Wissens vergleichen, und Berge von Gold und Silber könnten die erfolgreiche Lösung einer schwierigen Frage nicht aufwiegen. Alle Freuden, die abseits ihrer Arbeit liegen, sind ihnen nur Kindertand, und die beschwerliche Last unnötiger Besitztümer ist recht für Unwissende und kleine Geister. Wie die Vögel sind sie für eine Handvoll Samen dankbar, aber der Gesang ihres Wissens entzückt den Geist der Weltweisen.
Schließlich sind da die klugen Führer des Volkes und die einflußreichen Persönlichkeiten im ganzen Lande, die als Pfeiler den Staatsbau tragen. Ihr Rang, ihre Stufe und ihr Erfolg hängen davon ab, ob sie dem Volke wohlgesinnt sind und ob sie Maßnahmen zu verwirklichen trachten, die den Fortschritt der Nation fördern und die Wohlfahrt und das Wohlergehen der Bürger mehren.
#30Stellt euch vor, ein Mensch sei eine einflußreiche Persönlichkeit in seinem Land, er sei strebsam, einsichtsvoll, reinen Herzens, bekannt für seine angeborenen Fähigkeiten, seine Intelligenz und seinen natürlichen Scharfsinn; außerdem sei er ein wichtiges Mitglied der Staatsführung: Worin kann ein solcher Mensch Ehre und bleibendes Glück, Rang und Würde in dieser und der kommenden Welt sehen? Etwa nicht darin, daß er gewissenhaft bei der Wahrheit und Rechtschaffenheit bleibt, daß er entschlossen und hingebungsvoll nach dem Wohlgefallen Gottes trachtet, daß er danach strebt, die Gunst des Herrschers und den Beifall des Volkes zu finden? Oder vielleicht darin, daß er des Nachts auf ausschweifenden Festgelagen schwelgt, am Tage aber das Glück seines Landes untergräbt und dem Volk das Herz bricht, bis er von Gott verstoßen, von seinem König vertrieben, von seinem Volk verunglimpft und mit der verdienten Verachtung gestraft wird? Bei Gott, die modernden Gebeine auf den Friedhöfen sind besser als solche Menschen! Welchen Wert haben sie, die niemals von dem Manna wahrer menschlicher Tugenden gekostet und nie aus den kristallklaren Wassern jener Gaben getrunken haben, die zum Reich des Menschen gehören?
Zweifellos ist mit der Errichtung von Parlamenten beabsichtigt, für Gerechtigkeit und Redlichkeit Sorge zu tragen; alles hängt jedoch von den Anstrengungen der gewählten Abgeordneten ab. Wenn ihre Absicht rein ist, wird es zu wünschenswerten Ergebnissen und zu Verbesserungen kommen, die im voraus nicht abzuschätzen sind; andernfalls ist alles umsonst: Das Land wird zu einem Stillstand kommen, und mit dem öffentlichen Wohl geht es unaufhaltsam bergab. »Wie ich sehe, kommen tausend Bauleute nicht gegen einen Störenfried an. Was aber soll geschehen, wenn einem Baumeister tausend Störenfriede auf dem Fuße folgen?«
Im Vorangegangenen wurde zumindest darzulegen versucht, daß Glück und Größe, Rang und Stufe, Freude und Frieden eines Menschen nicht in seinem persönlichen Reichtum, vielmehr in seinem hervorragenden Charakter, seinem hehren Entschluß, seiner umfassenden Bildung und seiner Fähigkeit, schwierige Probleme zu lösen, beschlossen sind. Wie klar ist doch gesagt worden: »Was ich auf dem Körper trage, ist keinen Pfennig wert, wollte man es verkaufen; aber darunter schlägt ein Herz, das - gegen alle Herzen der Welt aufgewogen - größer und edler wäre.«
Nach Ansicht des Verfassers sollte die Einsetzung der nichtständigen Mitglieder beratender Körperschaften in souveränen Staaten vom Willen und der Wahl des Volkes abhängen; denn Abgeordnete, die gewählt werden, sind aus diesem Grund wenigstens einigermaßen geneigt, sich gerecht zu verhalten, damit ihr Ruf keinen Schaden leide und sie nicht vor der Öffentlichkeit in Ungnade fallen.
#31Man darf nicht glauben, die vorstehenden Bemerkungen des Verfassers sollten dazu angetan sein, den Wohlstand anzuklagen oder die Armut zu empfehlen. Wohlstand ist allen Lobes wert, wenn er durch die eigenen Anstrengungen eines Menschen und durch die Gnade Gottes auf den Gebieten des Handels, der Landwirtschaft, der Kunst oder des Gewerbefleißes erworben und für menschenfreundliche Zwecke ausgegeben wird. Vor allen Dingen gäbe es, wenn ein kluger, wendiger Mensch Wege fände, wie das Einkommen der Volksmassen allgemein gehoben werden kann, kein wichtigeres Unternehmen als dieses, und in den Augen Gottes würde dies als die größte Errungenschaft gelten, denn solch ein Wohltäter würde die Bedürfnisse einer großen Menge stillen und ihr Sicherheit und Wohlfahrt verschaffen. Wohlstand ist in höchstem Maße lobenswert, sofern die ganze Bevölkerung in Wohlstand lebt. Wenn jedoch nur einige wenige übermäßige Reichtümer besitzen und alle übrigen verarmt sind, wenn keine Frucht, kein Nutzen aus dem Wohlstand erwächst, dann bedeutet dieser nur eine Verpflichtung für den Eigentümer. Wird der Reichtum andererseits dazu verwendet, Wissen zu fördern, Grund- und andere Schulen zu eröffnen, Kunst und Gewerbe anzuregen, Waisen und Arme zu erziehen - kurz gesagt, wird er dem Wohle der Gesellschaft gewidmet -, dann steht sein Eigentümer vor Gott als der Vortrefflichste unter allen, die auf Erden wohnen, und wird zum Volke des Paradieses gezählt.
#32Nun zu jenen, die die Meinung vertreten, eine Inangriffnahme von Reformen und eine Errichtung machtvoller Institutionen stünde im Widerspruch zum Wohlgefallen Gottes, liefe den Gesetzen des Göttlichen Verordners zuwider, verstieße gegen die religiösen Grundsätze und gegen das Lebensvorbild des Propheten. Laßt sie überlegen, wie weit solches der Fall sein könnte. Laufen Reformen dem religiösen Gesetz zuwider, weil sie von Ausländern übernommen werden und wir dadurch wie diese werden nach dem Wort: »Wer ein Volk nachahmt, gehört ihm an«? Zunächst beziehen sich diese Dinge auf den zeitlichen, äußerlichen Apparat der Zivilisation, die Anwendung von Wissenschaften, die Nebenerscheinungen des Fortschritts im Berufsleben und in den Geisteswissenschaften sowie die ordnungsgemäße Führung der Staatsgeschäfte. Sie haben nichts zu tun mit den Problemen des Geistes und mit den vielschichtigen Wirklichkeiten religiöser Lehre. Wenn eingewandt würde, selbst in materiellen Angelegenheiten sei eine Übernahme vom Ausland unzulässig, würde eine solche Behauptung nur die Unwissenheit und Albernheit ihrer Vertreter darlegen. Haben sie den berühmten Hadith vergessen: »Suchet nach Wissen, selbst bis nach China«? Sicherlich gehören die Chinesen in den Augen Gottes zu den verworfensten Menschen, weil sie Götzenbilder anbeten und des allwissenden Herrn uneingedenk sind. Die Europäer sind wenigstens ein »Volk des Buches« und glauben an Gott; darauf wird in dem heiligen Vers Bezog genommen: »Du wirst sicherlich jene den Gläubigen liebreich am nächsten finden, die sagen `Wir sind Christen`« (Quran 5:85). Es ist deshalb durchaus zulässig und in der Tat vorzuziehen, in christlichen Ländern Wissen zu erwerben. Wie könnte die Suche nach Wissen unter den Heiden vor Gott annehmbar sein und die Suche unter dem Volk des Buches Gott mißfallen?
#33In der Schlacht der vereinigten Stämme verschaffte sich Abú Sufyán die Hilfe der Baní Kinánih, der Baní Qahtán und der jüdischen Baní Qurayzih; er erhob sich mit allen Stämmen der Quraysh, um das Göttliche Licht, das in der Lampe von Yathrib (Medina) flammte, zu tilgen. In jenen Tagen heulten die Stürme der Prüfungen und Schicksalsschläge aus jeder Richtung, wie geschrieben steht: »Wähnen die Menschen, in Rohe gelassen und nicht geprüft zu werden, wenn sie nur sagen `Wir glauben`?« (Quran 29:2). Die Gläubigen waren gering an Zahl, der Feind griff an mit Macht und suchte die neu erschienene Sonne der Wahrheit hinter dem Staub der Unterdrückung und der Gewaltherrschaft zu verfinstern. Da trat Salmán, der Perser, vor den Propheten, den Aufgangsort der Offenbarung, den Brennpunkt des unendlichen Glanzes der göttlichen Gnade, und sagte, daß man in Persien zum Schutz vor einem eindringenden Feind Festungsgräben oder Schanzen um das Land anlegte, und dies habe sich als eine höchst wirksame Vorsichtsmaßnahme gegen plötzliche Überfälle erwiesen. Hat nun daraufhin jener Brunnquell umfassender Weisheit, jener Schatzberg göttlicher Erkenntnis erwidert, solche Verteidigungsanlagen seien ein Brauch von götzendienerischen, feueranbetenden Magiern und könnten deshalb von den Gläubigen des einen wahren Gottes schlechterdings nicht übernommen werden? Oder hat Er nicht vielmehr sofort Seinen Anhängern befohlen, so rasch wie möglich einen Graben zu ziehen? Er machte sich sogar mit Seiner eigenen gesegneten Person auf, griff sich ein Werkzeug und arbeitete mit den anderen.
In den Büchern der verschiedenen islámischen Rechtssäulen und in den Schriften führender Gelehrter und Historiker ist des weiteren berichtet, wie heilige Gesetze offenbart wurden, die teilweise den Verhaltensweisen aus den Tagen der Unwissenheit¹ entsprachen - und dies, nachdem das Licht der Welt über dem Hijáz aufgegangen war, die ganze Menschheit mit Seinem Strahlenglanz umflutet und durch die Enthüllung eines neuen, göttlichen Gesetzes, neuer Grundsätze und neuer Einrichtungen eine grundlegende Veränderung in der ganzen Welt geschaffen hatte, so achtete Muhammad zum Beispiel die Monate des Gottesfriedens², Er erhielt das Verbot des Schweinefleisches aufrecht, setzte den Gebrauch des Mondkalenders sowie der Monatsnamen fort, und so weiter. Es gibt eine beträchtliche Zahl solcher Gesetze, die einzeln in den Texten aufgeführt sind:
¹ Jáhilíyyih: die heidnische Zeit in Arabien vor dem Auftreten Muhammads.
² Die heidnischen Araber hielten einen besonderen sowie drei aufeinanderfolgende Monate des Gottesfriedens ein. In dieser Zeit wurden Pilgerreisen nach Mekka, Handelsmessen, poetische Wettbewerbe und anderes durchgeführt.
#34»In den Tagen der Unwissenheit hielt sich das Volk an viele Bräuche, die das Gesetz des Islam später bestätigte. Sie heirateten keine Mutter und deren Tochter gleichzeitig; der schimpflichste Akt war in ihren Augen, zwei Schwestern zu heiraten. Ein Mann, der die Frau seines Vaters heiratete, wurde verspottet und als seines Vaters Nebenbuhler gebrandmarkt. Sie hatten den Brauch, zu dem Haus in Mekka zu pilgern und dort Besuchsriten zu verrichten, indem sie Pilgerkleider anlegten, das Haus feierlich umschritten, zwischen den Hügeln hin und her liefen, an den Halteplätzen warteten und Steine warfen. Weiter war es ihre Gewohnheit, in dreijährigen Abständen einen Schaltmonat in den Kalender einzufügen, nach dem Geschlechtsverkehr Waschungen zu verrichten, den Mund zu spülen, Wasser durch die Nasenlöcher einzuziehen, das Haar zu scheiteln, Zahnstocher zu benutzen, die Nägel zu schneiden und die Haare der Achselhöhlen auszurupfen. Desgleichen pflegten sie einem Dieb die rechte Hand abzuhacken.«
#35Kann man, Gott bewahre, aus der Tatsache, daß die göttlichen Gesetze den Bräuchen aus den Tagen der Unwissenheit, den Gewohnheiten eines von allen Nationen verachteten Volkes ähneln, den Schloß ziehen, diese göttlichen Gesetze seien dadurch fehlerhaft? Oder kann man sich, Gott behüte, einbilden, der Allmächtige Herr sei geneigt gewesen, sich den Ansichten der Heiden zu beugen? Die göttliche Weisheit nimmt viele Formen an. Wäre es Muhammad nicht möglich gewesen, ein Gesetz zu offenbaren, das keinerlei Ähnlichkeit mit den Bräuchen aus den Tagen der Unwissenheit hat? Nein, Seine vollendete Weisheit hatte zum Ziel, das Volk aus den Ketten des Fanatismus zu befreien, die es an Händen und Füßen fesselten, und genau denjenigen Einwendungen zuvorzukommen, die heutzutage den einfachen, hilflosen Seelen den Verstand verwirren und das Bewußtsein verstören.
Manche, die über die Bedeutung des Wortes Gottes und die Inhalte der überlieferten und niedergeschriebenen Geschichte nicht ausreichend im Bilde sind, werden behaupten, jene Bräuche aus den Tagen der Unwissenheit seien Gesetze gewesen, die Seine Heiligkeit Abraham gegeben und die die Götzendiener bewahrt hätten. In diesem Zusammenhang werden sie den Quran-Vers anführen: »Folget der Religion Abrahams, der gesund im Glauben war« (Quran 16:124). Es ist jedoch eine Tatsache, die in den Schriften aller islámischen Rechtsschulen belegt ist, daß die Monate des Gottesfriedens, der Mondkalender und das Abschlagen der rechten Hand als Strafe für Diebstahl keine Teile von Abrahams Gesetz bildeten. jedenfalls sind die fünf Bücher Mose vorhanden und heute allgemein zugänglich; sie enthalten die Gesetze Abrahams. Jene Gesprächspartner werden dann natürlich behaupten, die Torah sei verfälscht worden, und zum Beweis den Quran-Vers zitieren: »Sie verkehren den Text des Wortes Gottes« (Quran 4:45 und 5:16). Es ist jedoch bekannt, wo solche Verdrehungen stattfanden; in kritischen Texten und Kommentaren ist dies aufgezeichnet¹.
¹ vgl. Bahá'u'lláh, Das Buch der Gewißheit, Frankfurt 1969, p.63
#36Wollten wir diesen Gegenstand über eine kurze Erwähnung hinaus erweitern, müßten wir unsere eigentliche Absicht hintanstellen.
Nach gewissen Berichten ist die Menschheit gehalten, zahlreiche gute Eigenschaften und Verhaltensweisen von den wilden Tieren zu entlehnen und von diesen etwas dazuzulernen. Wenn es statthaft ist, Tugenden dummer Tiere nachzuahmen, gilt dies sicherlich weit mehr für fremde Völker, die wenigstens der menschlichen Rasse angehören und sich durch Urteilsvermögen und durch die Macht der Sprache auszeichnen. Und wenn behauptet wird, solche löblichen Eigenschaften seien den Tieren angeboren, mit welchem Beweis läßt sich dann vertreten, die wesentlichen Grundsätze der Kultur, die Erkenntnisse und Wissenschaften, welche bei anderen Völkern gebräuchlich sind, seien nicht »angeboren«? Gibt es einen Schöpfer außer Gott? Sprich: Preis sei Gott!
Die gelehrtesten und gebildetsten Geistlichen, die bedeutendsten Gelehrten haben gründlich diejenigen Wissenszweige studiert, deren Wurzel und Ursprung die griechischen Philosophen wie Aristoteles und andere waren. Bei Wissenschaften wie Medizin und Mathematik einschließlich Algebra¹ und Arithmetik galt es als besonders verdienstvolle Errungenschaft, die griechischen Texte aufzunehmen. Alle bedeutenden Geistlichen studieren und lehren die Wissenschaft der Logik, obwohl sie als deren Begründer einen Sabäer ansehen. Die meisten von ihnen bestehen darauf, daß auf die Meinungen, Ableitungen und Schlüsse eines Gelehrten kein sicherer Verlaß sei, wenn er zwar eine Reihe von Wissenschaften beherrsche, in der Logik jedoch keine gründlichen Vorkenntnisse habe.
¹ »Wenn wir mit dem Wort Algebra denjenigen Zweig der Mathematik bezeichnen, der uns lehrt, wie wir die Gleichung x 2 + 5 x = 14, auf diese Weise niedergeschrieben, lösen, dann beginnt diese Wissenschaft im 17. Jahrhundert. Wenn wir es zulassen, daß die Gleichung mit anderen, weniger geeigneten Symbolen geschrieben wird, beginnt Algebra bereits im 3. Jahrhundert. Wenn wir eine Beschreibung in Worten und eine Lösung für einfache Fälle positiver Wurzeln mit Hilfe geometrischer Figuren einbeziehen, war unsere Wissenschaft schon Euklid und anderen aus der Alexandrinischen Säule um 300 v. Chr. bekannt. Wenn wir mehr oder weniger wissenschaftliche Schätzungen bei der Annäherung an eine Lösung zulassen, läßt sich sagen, daß Algebra schon 2000 Jahre v.Chr. bekannt war und wahrscheinlich bereits viel früher die Aufmerksamkeit der intellektuellen Klasse auf sich zog ... Der Name `Algebra` ist rein zufällig. Als Muhammad ibn Músá al-Khowárizmí ... um 825 in Baghdad schrieb, gab er einem seiner Werke den Titel »Aljebr w'al-muqábalah«. Dieser Titel wird manchmal in »Wiedereinsetzung und Gleichung« übersetzt, aber die Bedeutung war selbst den späteren arabischen Schriftstellern nicht klar« (Encyclopaedia Britannica, 1952, Stichwort Algebra).
#37Es ist nun klar und unwiderleglich erwiesen, daß die Übernahme der Grundsätze und Verfahrensweisen kultivierten Lebens aus fremden Ländern und der Erwerb wissenschaftlicher Kenntnisse im Ausland - mit anderen Worten: alles, was zum allgemeinen Wohl beiträgt - uneingeschränkt zulässig ist. Dies wurde dargelegt, damit sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf eine Angelegenheit von so umfassendem Nutzen konzentriere, damit sich das Volk mit ganzer Kraft zu ihrer Förderung erhebe, bis mit der Hilfe Gottes dieses geheiligte Land in kurzer Zeit die erste unter allen Nationen werde.
O ihr, die ihr weise seid! Erwäget sorgfältig: Kann man eine gewöhnliche Waffe mit einem Martini-Henry-Gewehr oder einer Krupp-Kanone vergleichen? Wollte jemand behaupten, unsere alten Feuerwaffen seien gut genug für uns und es sei nutzlos, Waffen einzuführen, die im Ausland erfunden worden - würde da auch nur ein Kind auf ihn hören? oder wenn jemand sagt: »Wir haben immer unsere Waren von Land zu Land auf dem Rücken der Tiere befördert: wozu brauchen wir Dampfmaschinen? Warum sollten wir andere Völker nachzuäffen versuchen?«, könnte dann irgendein intelligenter Mensch solche Ansichten dulden? Nein, bei dem einen Gott! Es sei denn, er wollte sich aus hinterhältiger Absicht oder aus Feindseligkeit weigern, offenkundige Tatsachen anzuerkennen.
Andere Nationen zögern nicht, Ideen voneinander zu übernehmen, selbst wenn sie höchste Geschicklichkeit in Wissenschaft, Kunst und Gewerbefleiß erworben haben. Wie kann da Persien, ein Land in tiefster Not, vernachlässigt und verlassen zurückbleiben?
Jene bekannten Geistlichen und Gelehrten, die auf dem geraden Pfad wandeln, mit den Geheimnissen göttlicher Weisheit und der Innenwelt der Heiligen Bücher wohlvertraut sind, die das Juwel der Gottesfurcht in ihrem Herzen tragen und deren Angesichter im Lichte des Heils aufleuchten - diese Geistlichen und Gelehrten sind wach für die Gegenwartsbedürfnisse, sie verstehen die Erfordernisse der Moderne und werden sicherlich ihre ganze Kraft darauf verwenden, Bildung und Kultur voranzutragen. »Sind jene, die wissen, gleich denen, die nicht wissen? ... oder ist die Finsternis gleich dem Licht?« (Quran 39:12 und 13:17).
#38Die geistig Gebildeten sind Leuchten der Führung unter den Nationen und Sterne des Glücks, die vom Horizont des Menschentums strahlen. Sie sind Springbrunnen des Lebens für solche, die dem Tode stumpfer Unwissenheit verfallen sind, und reine Quellen der Vollkommenheit für jene, die dürstend durch die Wüsten ihrer Fehler und Irrtümer wandern. Die Dämmerorte der Zeichen göttlicher Einheit sind sie, und Eingeweihte in die Geheimnisse des ruhmreichen Quran. Sie sind erfahrene Ärzte für den kranken Körper der Welt Und das sichere Heilmittel gegen das Gift, das die menschliche Gesellschaft verderbt hat. Sie sind es, die als starke Feste die Menschheit beschützen, sie sind die unantastbare Freistatt für die Bedrängten, die Bekümmerten und Gequälten und für die Opfer der Unwissenheit. »Wissen ist ein Licht, das Gott ins Herz wirft wem immer Er will.«
Für jedes Ding hat Gott ein Zeichen und Sinnbild geschaffen, hat Er Maßstäbe und Prüfsteine aufgestellt, nach denen es beurteilt werden kann. Die geistig Gebildeten müssen sich durch innere wie äußere Vollkommenheiten auszeichnen; sie müssen einen guten Charakter, ein aufgeklärtes Wesen, reine Absichten so gut wie Verstandeskraft, Scharfsinn, Unterscheidungs- und Einfühlungsvermögen besitzen, ferner müssen sie besonnen, vorsichtig, beherrscht und ehrerbietig sein und Gott aufrichtig fürchten. Denn eine Kerze, die nicht brennt, ist, so dick und groß sie auch sein mag, nicht besser als ein dürrer Baum oder ein Haufen Reisig.
»Die Maid mag schmollen oder mit mir spielen. Grausame Schönheit, groll nur, sei kokett! Jedoch der Häßlichen steht Scheu nicht an, und Schmerz in blindem Aug' tut doppelt weh.«¹
¹ Jalál-id-Din Rúmí, Mathnaví I, 1906-1907»Wer zu den Gebildeten¹ gehört, muß sich selbst bewahren, seinen Glauben verteidigen, seinen Leidenschaften widerstehen und die Gebote seines Herrn befolgen. Sodann ist es die Pflicht des Volkes, sich an sein Beispiel zu halten.«
¹ ulamà (vom arabischen alima = wissen) kann auch als »Gelehrter«, »Wissenschaftler«, »religiöse Autorität« übersetzt werden.
Da diese erlauchten und heiligen Worte alle Voraussetzungen der Bildung enthalten, ist eine kurze Erläuterung ihres Sinns angebracht. Wenn es auch immer an diesen göttlichen Fähigkeiten gebricht, wer diese unabdingbaren Erfordernisse nicht in seiner Lebensführung an den Tag legt, sollte nicht als ein Gebildeter angesehen werden und ist nicht wert, den Gläubigen als Vorbild zu dienen.
#39Das erste dieser Erfordernisse ist sich selbst zu bewahren. offensichtlich bedeutet dies nicht, daß man sich vor Unglück und materiellen Prüfungen schützt; denn alle Propheten und Heiligen waren dem bittersten Leid, das die Welt zu bieten hat, ausgesetzt und dienten der Menschheit zur Zielscheibe der Grausamkeit und Angriffslust. Sie gaben ihr Leben für das Wohlergehen des Volkes, und aus ganzem Herzen strebten sie ihrer Opferstätte entgegen. Durch ihre innere und äußere Vollkommenheit schmückten sie die Menschenwelt mit neuen Gewändern vortrefflicher Eigenschaften, angeborener wie anerzogener. Die Grundbedeutung dieser »Selbstbewahrung« ist deshalb, `die Attribute geistiger und materieller Vollkommenheit zu erwerben.`
#40Das erste Attribut der Vollkommenheit sind Wissen und die kulturellen Errungenschaften des Geistes. Diese hohe Stufe ist erreicht, wenn jemand eine umfassende Kenntnis besitzt von den vielschichtigen transzendenten Wirklichkeiten Gottes, den Grundwahrheiten der politisch-religiösen Gesetze des Quran, dazu von dem Inhalt der heiligen Schriften anderer Bekenntnisse sowie von den Satzungen und Verfahren, die zum Fortschritt und zur Kultivierung dieses hervorragenden Landes beitragen können. Darüber hinaus sollte ein solcher Mensch über anderer Länder Gesetze und Grundsätze, Gebräuche, Lebensumstände und Gepflogenheiten sowie über die materiellen und sittlichen Vorzüge, die deren Staatskunst kennzeichnen, Bescheid wissen; er sollte auf allen nutzbringenden Wissensgebieten seiner Zeit wohl beschlagen sein und die Annalen der Geschichte studieren. Denn wenn ein Mann von Bildung nicht die heiligen Schriften und den Gesamtbereich der Gottes- und Naturwissenschaften, des religiösen Rechts, der Staatskunst, des Tageswissens und der großen geschichtlichen Ereignisse kennt, dann kann es leicht sein, daß er einem Ernstfall nicht gewachsen ist, und das wäre unvereinbar mit dem notwendigen Erfordernis umfassenden Wissens.
#41Wenn zum Beispiel ein islamischer Gelehrter im Wortstreit mit einem Christen liegt und nichts von den herrlichen Melodien des Evangeliums weiß, dann wird es ihm nicht möglich sein, den Christen zu überzeugen; er wird tauben Ohren predigen, so viel er auch aus dem Quran vorträgt. Merkt der Christ jedoch, daß der Muslim über die Grundwahrheiten des Christentums besser Bescheid weiß als die christlichen Theologen und daß er den Sinn der Schriften tiefer erfaßt hat als jene, dann wird er den Folgerungen des Muslims gern zustimmen; tatsächlich bleibt ihm dann keine andere Wahl.
Als der Exilarch¹ in die Gegenwart jener Leuchte göttlicher Weisheit, des Heils und der Gewißheit, des Imám Ridá, trat, hätte er nie die Größe seiner Heiligkeit anerkannt, wenn der Imam, dieser Schatzberg des Wissens, im Verlauf der Unterredung nicht seine Beweisgrunde auf Gewährsleute gegründet hätte, die der Exilarch schätzte und mit denen er vertraut war.
¹ Der Resch Galuta, ein Fürst oder Regent über die Verbannten in Bábylon, dem die Juden, wo sie auch waren, Tribut zollten.
Auf zwei Kräfte ist der Staat gegründet: die gesetzgebende und die ausführende Gewalt. Die ausführende Gewalt geht von der Regierung aus, während im Mittelpunkt der Gesetzgebung der Gebildete steht. Wie wäre es denkbar, daß ein Staat Bestand hätte, wenn diese letztere starke Stütze, dieser Grundpfeiler, schadhaft ist?
Angesichts der Tatsache, daß heutzutage solche voll entwickelten und umfassend gebildeten Persönlichkeiten kaum zu finden sind, während Regierung und Volk der Ordnung und Führung dringend bedürfen, ist es wichtig, einen Rat von Gelehrten zu begründen, dessen verschiedene Mitgliedergruppen jeweils in einem der vorerwähnten Wissenszweige sachverständig sind. Diese Körperschaft sollte mit größtem Eifer und mit aller Tatkraft über gegenwärtige und künftige Erfordernisse beraten, um Gleichgewicht und Ordnung herbeizuführen.
#42Bislang ist dem religiösen Gesetz noch keine entscheidende Rolle an unseren Gerichten eingeräumt worden, weil jeder der 'Ulamá diejenigen Urteile überlieferte, die er nach seiner eigenmächtigen Auslegung und nach seiner persönlichen Meinung für angebracht hielt. Wenn zum Beispiel zwei Männer vor Gericht gehen und einer der 'Ulamá zu Gunsten des Klägers, ein anderer zu Gunsten des Beklagten entscheidet, dann mag es geschehen, daß in ein und demselben Fall zwei widersprüchliche Urteile von ein und demselben Mujtahid gesprochen werden, weil er das erste Mal in die eine Richtung, das zweite Mal in die andere Richtung inspiriert wurde. Es besteht kein Zweifel, daß dieser Zustand alle wichtigen Belange durcheinanderbringt und die Grundlagen der Gesellschaft gefährdet; denn Kläger wie Beklagter geben die Hoffnung nie auf, schließlich doch noch obzusiegen, und jeder vergeudet sein Leben mit dem Versuch, noch ein Urteil herbeizuführen, das das vorhergehende rückgängig macht. Ihre ganze Zeit vertun sie an die Prozeßführung mit dem Ergebnis, daß sie ihre Lebenskraft auf den Streit statt auf nutzbringende Unternehmungen und auf angemessene persönliche Bedürfnisse verwenden. Diese beiden Streithähne könnten in der Tat genau so gut tot sein, denn sie sind ihrer Regierung und ihrer Gemeinde nicht im geringsten zu Diensten. Wenn jedoch ein endgültiges, unwiderrufliches Urteil erginge, müßte die rechtmäßig unterlegene Partei notgedrungen alle Hoffnung auf die Wiederaufnahme des Falles fahren lassen; der Verurteilte wäre dieser Sache entbunden und könnte zur Sorge um seine eigenen Angelegenheiten und diejenigen anderer zurückkehren.
Da diese überaus wichtige Frage das vornehmste Mittel für die Sicherung des Friedens und der Ruhe des Volkes und die wirksamste Triebkraft für das Fortkommen von Hoch und Niedrig ist, obliegt es denjenigen gelehrten Mitgliedern der großen beratenden Versammlung, die im Göttlichen Gesetz gründlich bewandert sind, eine einzige, direkte und genaue Verfahrensweise für die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten zu entwickeln. Dieser Rechtsgang sollte dann im ganzen Land auf Befehl des Königs veröffentlicht werden, seine Vorkehrungen müßten genauestens einzuhalten sein. Es ist dies eine umfassend wichtige Angelegenheit, die dringend behandelt werden muß.
#43Das zweite Attribut der Vollkommenheit ist Gerechtigkeit und Unparteilichkeit. Dies bedeutet, keine Rücksicht auf persönlichen Nutzen und eigensüchtige Vorteile zu nehmen, vielmehr die Gesetze Gottes ohne den leisesten Hintergedanken an irgend etwas anderes anzuwenden. Es bedeutet ferner, sich selbst nur als einen der Diener Gottes, des Allbesitzenden, anzusehen und nie danach zu trachten, sich von den anderen abzusondern, es sei denn im Streben nach geistiger Würde. Es bedeutet, das Wohl der Gemeinschaft als das eigene zu empfinden. Kurz gesagt heißt dies, die ganze Menschheit als ein einziges Lebewesen, sich selbst als ein Glied dieses großen Körpers zu erkennen und in der Gewißheit zu wirken, daß jede Not, jede Wunde, die irgend einen Teil dieses Körpers trifft, unweigerlich alle übrigen Glieder in Mitleidenschaft zieht.
Die dritte Voraussetzung für die Vollkommenheit ist, sich aufrichtig und mit der lautersten Absicht aufzumachen, die Massen zu erziehen: sich bis zum äußersten anzustrengen, um sie auf den verschiedenen Gebieten der Gelehrsamkeit und der nutzbringenden Wissenschaften zu unterweisen, um neue Fortschritte zu fördern, die Reichweite des Handels, der Industrie und des Kunstgewerbes zu vergrößern und solche Maßnahmen zu unterstützen, die den Wohlstand des Volkes erhöhen. Die breiten Schichten der Bevölkerung wissen nämlich nicht Bescheid über jene lebenspendenden Kräfte, die die chronischen Leiden der Gesellschaft rasch heilen könnten.
Es ist unbedingt nötig, daß die Gelehrten und geistig Gebildeten aufrichtigen und reinen Herzens und nur aus Liebe zu Gott daran gehen, die Massen zu beraten, sie zu ermahnen und ihr Gesichtsfeld zu reinigen mit jener Augensalbe, die Wissen heißt. Denn in ihrem tief verwurzelten Aberglauben meinen viele Leute heutzutage, ein Mensch, der an Gott und Seine Zeichen, an die Propheten, ihre Offenbarungen und ihre Gesetze glaubt, der fromm und gottesfürchtig ist, müsse notwendigerweise müßig gehen Und seine Tage mit Nichtstun verbringen, um in den Augen Gottes dazustehen als einer, der der Welt und ihrem Trug entsagt, sein Herz dem künftigen Leben zugewandt und sich von den anderen abgesondert hat, damit er dadurch Ihm näher kommt. Da dieses Thema anderweitig in der vorliegenden Schrift entwickelt wird, wollen wir es hier auf sich beruhen lassen.
Weitere Attribute der Vollkommenheit sind, Gott zu fürchten, Ihn zu lieben, indem man Seine Diener liebt, Sanftmut, Geduld und Gelassenheit zu üben, aufrichtig, zugänglich, milde und mitleidsvoll, entschlossen und mutig, zuverlässig und tatkräftig zu sein, zu ringen und zu streben, edelmütig, treu und ohne Hintergedanken zu sein, Eifer und Ehrgefühl an den Tag zu legen, hochgesinnt und großmütig zu sein und die Rechte anderer zu achten. Wem es an diesen hervorragenden menschlichen Eigenschaften fehlt, der ist unvollkommen. Wollten wir die inneren Bedeutungen aller dieser Tugenden erklären, »das Gedicht würde siebzig Maund¹ Papier füllen«
¹ ein altes orientalisches Gewicht, entspricht 1000 Mithqál = 3,5 kg
#44Der zweite jener geistigen Maßstäbe, die an den Gebildeten anzulegen sind, ist, daß er seinen Glauben verteidigen soll. Natürlich beziehen sich diese heiligen Worte nicht nur darauf, daß man nach dem tieferen Sinn des Gesetzes forscht, gottesdienstliche Formvorschriften einhält, größere und kleinere Sünden vermeidet, Riten und Bräuche wahrnimmt und mit allen diesen Mitteln den Glauben schützt. Weit eher bedeuten diese Worte, daß die ganze Bevölkerung in jeder Weise geschützt werden soll, daß alle Anstrengungen unternommen werden, um durch die Kombination aller erdenklichen Maßnahmen das Wort Gottes zu verbreiten, die Zahl der Gläubigen zu vergrößern, die Sache Gottes zu fördern, sie zu erhöhen und zum Sieg über andere Glaubensformen zu führen.
In der Tat, hätten sich die religiösen Gewalten der Muslimen an diese Richtschnur gehalten, wie sie es hätten tun sollen, wäre heutzutage jedes Volk auf Erden unter dem Schutzdach der Einheit Gottes versammelt, und das helle Feuer des »damit Er sie siegreich mache über jede andere Religion« (Quran 9:33, 48:28, 61:9) wäre wie die Sonne mitten im Herzen der Welt aufgeflammt.
Fünfzehn Jahrhunderte nach Christus wandte sich Luther, ursprünglich eines von zwölf Mitgliedern einer katholischen Religionskörperschaft im Zentrum der päpstlichen Verwaltung und später der Begründer des protestantischen Glaubens, gegen den Papst, und zwar wegen gewisser Lehraussagen wie des Eheverbots für Mönche, des verehrungsvollen Niederbeugens vor den Bildern von Aposteln und christlichen Führern der Vergangenheit sowie wegen verschiedener anderer religiöser Praktiken und Bräuche, die den Geboten des Evangeliums hinzugefügt worden waren. obwohl zu jener Zeit die Macht des Papstes so groß war und er mit solcher Ehrfurcht behandelt wurde, daß die Könige Europas vor ihm zitterten und bebten, obwohl der Papst alle wichtigen Belange Europas kontrollierend im Griff hielt, haben doch in den letzten 400 Jahren die Mehrheit der Bevölkerung Amerikas, vier Fünftel von Deutschland und England und ein großer Prozentsatz von Österreichern, alles in allem etwa hundertfünfundzwanzig Millionen Menschen, andere christliche Bekenntnisse verlassen und sind in die protestantische Kirche eingetreten, weil Luthers Einstellung in der Frage der Freiheit von Religionsführern zur Heirat, in seiner Abkehr von der Anbetung und vom Niederknien vor Bildern und Heiligenfiguren, die in Kirchen hingen, und in der Abschaffung von Zeremonien, die dem Evangelium beigefügt worden waren, nachweislich richtig war, ferner weil die richtigen Mittel ergriffen wurden, seine Ansichten zu verbreiten. Die Führer dieser Religionsgemeinschaft geben sich nach wie vor jede Mühe, sie zu fördern; heutzutage haben sie an der Ostküste Afrikas Volks- und Oberschulen begründet, offenbar um die Sudanesen und verschiedene Negervölker zu emanzipieren. Sie schulen und zivilisieren völlig wilde afrikanische Stämme, wobei ihr wahres und eigentliches Ziel ist, gewisse muslimische Negerstämme zum Protestantismus zu bekehren. Jede Gemeinschaft müht sich um den Fortschritt ihrer Angehörigen, und wir (d.h. die Muslimen) schlafen weiter!
Auch wenn nicht klar wurde, welche Zielvorstellung jenen Mann vorantrieb oder wozu er neigte, seht nur den Eifer und die Mühe, mit der die protestantischen Führer seine Lehren weit und breit verkündet haben!
Es ist sicher, daß das Licht Gottes die ganze Erde umhüllen würde, wollte nur das erlauchte Volk des einen wahren Gottes als Empfänger Seiner Bestätigungen und Seiner göttlichen Hilfe mit aller Kraft und mit völliger Hingabe, ganz im Vertrauen auf Gott und losgelöst von allem außer Ihm, Maßnahmen für die Verbreitung des Glaubens ergreifen und alle Mühe auf dieses Ziel verwenden.
#46Einzelne Menschen, denen die Wirklichkeit unter der Oberfläche der Ereignisse verborgen bleibt, die den Pulsschlag der Welt nicht fühlen können, die nicht wissen, welch große Dosis Wahrheit der Menschheit eingegeben werden muß, damit sie von dem chronischen Leiden der Lüge geheilt wird, sind der Ansicht, daß der Glaube nur durch das Schwert verbreitet werden kann; sie unterbauen ihre Meinung mit der Überlieferung: »Ich bin ein Prophet durch das Schwert.«
Wenn sie diese Frage jedoch sorgfältig prüfen würden, müßten sie erkennen, daß das Schwert heutzutage, in diesem Zeitalter, kein passendes Mittel für die Verbreitung des Glaubens ist, weil es die Herzen der Menschen nur mit Abscheu und Schrecken füllt. Nach dem göttlichen Gesetz Muhammads geht es nicht an, daß das Volk des Buches gezwungen wird, den Glauben anzuerkennen und anzunehmen. Während es eine heilige Pflicht für jeden ist, der mit Überzeugung an die Einheit Gottes glaubt, die Menschen zur Wahrheit zu führen, beziehen sich die Überlieferungen »Ich bin ein Prophet durch das Schwert« und »Mir ist befohlen, den Leuten nach dem Leben zu trachten, bis sie sagen: `Es gibt keinen Gott außer Gott`« auf die Götzendiener aus den Tagen der Unwissenheit, die in ihrer Blindheit und Tierhaftigkeit tief unter die menschliche Stufe gesunken waren. Auf einen Glauben, der durch Schwertstreiche begründet würde, wäre schwerlich Verlaß; der geringste Anlaß würde ihn in Irrtum und Unglauben zurückverwandeln. So fielen z.B. auch die Stämme in der Umgebung Medinas nach dem Heimgang Muhammads, nach Seinem Aufstieg auf »den Sitz der Wahrheit in der Gegenwart des allmächtigen Königs« (Quran 54: 55), von ihrem Glauben ab und wandten sich wieder dem Götzendienst der heidnischen Zeit zu.
Erinnert euch daran, wie die heiligen Dufte des Geistes Gottes (Jesus) ihre Süße über Palästina und Galiläa, über die Ufer des Jordan und die Gefilde um Jerusalem ergossen, wie die wundersamen Melodien des Evangeliums in den Ohren der geistig Erleuchteten klangen: Alle Völker von Asien und Europa, von Afrika Und Amerika, von Ozeanien, das die Inseln und Inselgruppen des Pazifischen und des Indischen Ozeans umfaßt, waren Feueranbeter und Heiden, unbewußt der Göttlichen Stimme, die am Tage des Bundes¹ sprach. Allein die Juden glaubten an die Göttlichkeit und Einheit Gottes. Nach der Erklärung Jesu hauchte der reine, erweckende Odem Seines Mundes drei Jahre hindurch ewiges Leben in die Bewohner jener Landstriche, und durch die Göttliche Offenbarung des Gesetzes Christi wurde damals dem siechen Körper der Welt die lebenspendende Arznei gereicht. In den Tagen Jesu wandten nur wenige Menschen ihr Angesicht Gott zu. Tatsächlich wurden nur die zwölf Junger und ein paar Frauen wahre Gläubige, Und einer der Jünger, Judas Ischariot, verriet seinen Glauben, so daß nur elf übrigblieben.
¹ Quran 7:171: Yawm-i-Alast, der Tag, an dem sich Gott an die künftige Nachkommenschaft Adams wandte mit den Worten »Bin Ich nicht euer Herr?« (A-lastu bi Rabbikum), und sie antworteten: »Ja, wir bezeugen es.«
#48Nach dem Aufstieg Jesu ins Reich der Herrlichkeit erhoben sich diese wenigen Seelen mit ihren geistigen Tugenden und mit Taten, die rein und heilig waren, und machten sich durch die Allmacht Gottes und den lebenspendenden Odem des Messias auf, alle Völker der Erde zu erretten. Da standen alle götzendienerischen Nationen sowie die Juden machtvoll auf, das Göttliche Feuer zu tilgen, das in der Lampe von Jerusalem entzündet war. »Gern hätten sie Gottes Licht mit ihren Mäulern ausgeblasen; aber Gott will Sein Licht vervollkommnen, wiewohl die Ungläubigen es verabscheuen« (Quran 9: 33). Unter den schlimmsten Foltern brachten sie jede dieser heiligen Seelen zu Tode; mit Schlachtermessern hackten sie die reinen, unbefleckten Leiber von einigen unter ihnen in Stücke und verbrannten sie in Feueröfen; andere Gläubige streckte man auf der Folter und begrub sie dann bei lebendigem Leibe. Trotzdem sie so mit Todesqualen belohnt wurden, fuhren die Christen fort, die Sache Gottes zu lehren; nie zogen sie ein Schwert aus der Scheide oder streiften auch nur eine Wange. Am Ende umfing der Glaube Christi die ganze Erde, so daß in Europa und Amerika keine Spuren von anderen Religionen übrig blieben und heute in Asien, Afrika und Ozeanien große Volksmassen im Heiligtum der vier Evangelien leben.
Es ist somit durch unwiderlegliche Beweise untermauert worden, daß der Glaube Gottes durch menschliche Vollkommenheiten, durch hervorragende und gefällige Tugenden und ein durchgeistigtes Verhalten verkündet werden muß. Wenn sich eine Seele aus eigenem Antrieb Gott zuwendet, wird sie an der Schwelle der Einheit aufgenommen; denn ein solcher Mensch ist frei von persönlichen Beweggründen, von Habgier und selbstischer Gewinnsucht. Er hat unter dem Schutz und Schirm seines Herrn Zuflucht gesucht. Unter seinen Mitmenschen wird er durch seine Vertrauenswürdigkeit und Wahrheitsliebe, Mäßigung und Gewissenhaftigkeit, Großherzigkeit und Treue, Unbestechlichkeit und Gottesfurcht bekannt werden. So wird das höchste Ziel der Verkündigung des göttlichen Gesetzes - Glück im kommenden Leben, eine hochentwickelte Kultur und edle Charaktereigenschaften auf dieser Welt zu schaffen - verwirklicht. Das Schwert hingegen wird nur Menschen hervorbringen, die äußerlich Gläubige, in ihrem Herzen aber Ketzer und Verräter sind.
#49Wir wollen hier eine Geschichte erzählen, die allen als Beispiel dienen mag.
Die arabischen Chroniken berichten, wie in der Zeit vor dem Kommen Muhammads Nu'mán, der Sohn Mundhirs des Lakhmiten - ein arabischer König aus den Tagen der Unwissenheit, dessen Residenz die Stadt Hirih war - dem Wein einmal so sehr zugesprochen hatte, daß sich seine Sinne verfinsterten und der Verstand ihn verließ. In diesem volltrunkenen, gefühllosen Zustand gab er den Befehl, seine beiden Zechbrüder und vertrauten, vielgeliebten Freunde, Khálid, den Sohn des Mudallil, und Amr, den Sohn des Mas'úd-Kaldih, vom Leben zum Tode zu befördern. Als der König am anderen Morgen erwachte und nach seinen beiden Freunden fragte, wurde er an das entsetzliche Geschehnis erinnert. Kummer befiel sein Herz; in seiner aufrichtigen Liebe und Sehnsucht ließ er über den beiden Gräbern zwei herrliche Denkmäler bauen, die er »die Blutbeschmierten« benannte. Daraufhin bestimmte er zwei Tage des Jahres zum Gedächtnis an die beiden Gefährten. Den einen hieß er den »Tag des Übels«, den zweiten den »Tag der Gnade«. jedes Jahr pflegte er an diesen Tagen mit Pomp und Gepränge hinauszuziehen und sich zwischen den beiden Grabmälern niederzulassen. Wenn an dem »Tag des Übels« sein Auge auf irgend jemanden fiel, wurde dieser umgebracht; wer jedoch am »Tag der Gnade« vorüberging, wurde mit Geschenken und Gunstbeweisen überschüttet. Solches war sein königliches Gebot, das mit einem mächtigen Eid besiegelt und immer streng eingehalten wurde.
#50Eines Tages bestieg der König sein Roß, Mahinúd genannt, und ritt hinaus in die Steppe, um zu jagen. Von ungefähr erblickte er in der Ferne ein Wildpferd, gab seinem Roß die Sporen, um das Wild einzuholen, und hetzte mit solcher Geschwindigkeit davon, daß er von seinem Gefolge abgeschnitten wurde. Die Nacht brach herein, und der König war hoffnungslos verloren. Da entdeckte er fern in der Wüste ein Zelt; er wandte sein Pferd und ritt drauf zu. Als er zum Eingang gekommen war, fragte er den Besitzer, Hanzala, den Sohn des Abí-Ghafráy-i-Tá'í: »Nimmst du einen Gast auf?« Hanzala sagte »Ja«, trat heraus und half Nu'mán beim Absteigen. Dann ging er zu seiner Frau und sprach zu ihr: »Es sind deutliche Anzeichen hohen Ranges in dem Verhalten dieses Mannes. Tue dein Möglichstes, um ihm Gastfreundschaft zu erweisen, und bereite ein Fest.« Die Frau erwiderte: »Wir haben ein Mutterschaf, das du darbringen könntest, und ich habe noch ein bißchen Mehl für solche Gelegenheiten aufgespart.« Hanzala molk zunächst das Schaf und bot Nu'mán die Schale zum Trunk, dann schlachtete er das Tier und bereitete ein Festmahl, und dank seiner gütigen Gastfreundschaft verbrachte Nu'mán die Nacht in Frieden und Behagen. Als die Dämmerung heraufzog, machte sich Nu'mán fertig und sagte zu Hanzala: »Du hast mir größte Freigebigkeit erwiesen, wie du mich aufgenommen Und festlich bewirtet hast. Ich bin Nu'mán, der Sohn des Mundhir, und freue mich sehr darauf, dich an meinem Hofe begrüßen zu können.«
Die Zeit ging dahin, Hungersnot zog ein im Lande Tayy. Hanzala kam in große Bedrängnis, und darum suchte er den König auf. Ein seltsamer Zufall fügte es, daß er am »Tag des Übels« eintraf. Nu'mán zeigte sich höchst beunruhigt. Er machte seinem Freund Vorwürfe: »Warum bist du gerade heute zu mir gekommen? Denn dies ist der `Tag des Übels`, der Tag des Zornes und der Pein. Selbst wenn mir heute Qábús, mein einziger Sohn, unter die Augen träte, käme er nicht mit dem Leben davon. Nun bitte mich um irgendeine Gunst, die du willst.«
Hanzala erwiderte: »Ich wußte nichts von deinem `Tag des Übels`. Die Gaben dieser Welt sind für die Lebenden da. Was sollen mir alle Schätze dieser Erde, wenn ich den Tod kosten muß?«
»Daran ist nichts zu ändern«, sagte Nu'mán. Hanzala sprach: »So gewähre mir denn Aufschub, daß ich zu meinem Weib heimkehren und meinen letzten Willen machen kann. Im nächsten Jahr werde ich am `Tag des Übels` wiederkommen.«
#51Nu'mán verlangte einen Bürgen, der an Hanzalas Statt hingerichtet wurde, falls dieser nicht zurückkehrte. Bestürzt und hilflos sah sich Hanzala um. Da fiel sein Blick auf einen aus Nu'máns Gefolge, Sharik, den Sohn des Amr-ibn-Qaysibn-Shaybán, und an ihn wandte er sich mit den Worten: »O Sohn des Amr, mein Gefährte! Gibt es irgendeinen Ausweg vor dem Tode? O du Bruder jedes Bedrängten, du Bruder des Bruderlosen, du Bruder Nu'máns! Du könntest dem Scheich Bürgschaft leisten. Wo ist Shaybán der Edelmütige - möge der Allbarmherzige ihm Gunst bezeigen!« Aber Sharík erwiderte nur: »O mein Bruder, ein Mann kann nicht mit seinem Leben spielen.« Da wußte das Opfer nicht mehr, wohin es sich wenden sollte. Doch ein Mann namens Qarád, Sohn Adjas des Kalbiten, stand auf und bot sich als Bürge an; er willigte ein, daß der König mit ihm, Qarád, tun könne, was er wolle, wenn er zum nächsten »Tag des Zornes« Hanzala nicht beibrächte. Daraufhin schenkte Nu'mán dem Hanzala fünfhundert Kamele und ließ ihn ziehen.
Als im folgenden Jahr der `Tag des Übels` hereinbrach, zog Nu'mán wie gewohnt mit Pomp und Prunk hinaus zu den beiden Grabmälern, die die Blutbeschmierten hießen. Er führte Qarád mit sich, um seinen königlichen Zorn an ihm auszulassen. Die Pfeiler des Staates lösten ihre Zunge und baten um Gnade; sie flehten den König an, er möge Qarád bis zum Sonnenuntergang Aufschub gewähren, denn sie hofften, Hanzala käme noch. Aber des Königs Absicht war, Hanzalas Leben zu schonen und ihm die Gastfreundschaft zu vergelten, indem er Qarád an seiner Stelle hinrichtete. Als sich die Sonne zum Abend neigte, zog man Qarád die Kleider vom Leibe Und schickte sich an, ihm den Kopf abzuschlagen. Da wurde in der Ferne ein Reiter sichtbar, der in gestrecktem Galopp näherkam. »Warum zögerst du?« wandte sich Nu'mán an den Henker. Der antwortete: »Vielleicht ist es Hanzala, der da kommt.« Bald sah man, daß es kein anderer war.
#52Nu'mán war höchst ungehalten. »Du Dummkopf!« sagte er. »Einmal bist du den Klauen des Todes entronnen. Mußt du ihn nun zum zweiten Male herausfordern?« Aber Hanzala erwiderte: »Süß in meinem Monde und angenehm auf meiner Zunge ist das Gift des Todes bei dem Gedanken, daß ich damit mein Unterpfand auslöse.«
Da fragte Nu'mán: »Was ist der Grund für solche Pflichttreue? Weshalb hälts du dich so genau an deine Obliegenheiten, so streng an deinen Eid?« - »Das macht mein Glaube an den einen Gott und an die Bücher, die vom Himmel kamen«, gab Hanzala zur Antwort. Nu'mán fragte: »Zu welchem Glauben bekennst du dich?«, und Hanzala sagte: »Es war der heilige Odem Jesu, der mir das Leben gab. Ich folge dem geraden Pfad Christi, des Geistes Gottes.« Nu'mán bat: »Laß auch mich diesen stillen Hauch des Geistes atmen!«
So kam es, daß Hanzala die weiße Hand der Führung aus dem Busen der Liebe Gottes zog¹ und das äußere wie das innere Blickfeld derer, die ihn umstanden, mit dem Lichte des Evangeliums erleuchtete. Dem klaren Klang einer Glocke gleich trug er einige der göttlichen Verse aus der Bibel vor. Da wurden Nu'mán und alle seine Diener ihrer Götzen überdrüssig und wollten diese keinen Augenblick länger anbeten. Im Glauben an Gott wurden sie bestätigt, und sie riefen: »Wehe uns, tausendmal wehe uns, daß wir uns bis heute nicht um diese grenzenlose Gnade kümmerten und sie vor uns verborgen blieb, daß wir dieser Segensströme aus den Wolken der Gunst Gottes beraubt waren!« Sofort riß der König die beiden Denkmäler ab, die die Blutbeschmierten hießen. Er bereute seine Gewaltherrschaft und ließ fortan Gerechtigkeit walten in seinem Land.
¹ Zu diesem Sinnbild vgl. 2.Mose 4:6, ferner Quran 27:12, 7:105, 20:23, 26:32 und 28:32. Omar Khayyam dichtet in den Rubayyaten darüber:
Wenn nun das Neue Jahr die alten Wünsche weckt,gedankenschwer die Seele sich in Einsamkeit versteckt,
wo Jesus aus dem Grund empor sich sehntDie Metaphern dieses Verses beziehen sich neben ihrem transzendenten Gehalt auf den Blumenduft und die Baumblüten des Frühlings.
Bedenket, wie hier ein einfacher Mann aus der Wüste, dem äußeren Anschein nach namenlos und ohne Rang und Würden, imstande war, diesen stolzen Herrscher und eine große Schar anderer aus der Nacht des Unglaubens zu befreien und sie in das Morgenlicht des Heils zu fuhren, wie er sie aus dem Verderben der Götzendienerei an das rettende Gestade der Einheit Gottes brachte und ihren Verwirrungen ein Ende setzte - Verwirrungen von solcher Art, daß sie ganze Gesellschaften verderben und ganze Völker zur Barbarei herabwürdigen - nur weil er eine der Eigenschaften jener aufwies, die reinen Herzens sind. Man muß tief über dies alles nachdenken, um seine volle Bedeutung zu erfassen.
#53Mein Herz tut weh, weil ich mit tiefem Bedauern wahrnehmen muß, daß das Volk sein Augenmerk nirgendwo auf das lenkt, was dieses Tages und dieser Zeit würdig ist. Die Sonne der Wahrheit ist über der Welt aufgegangen, doch wir sind verfangen im Dunkel unserer Einbildungen. Die Wogen des Größten Meeres umbranden uns, während wir matt vor Durst dahinschmachten. Das göttliche Brot kommt vom Himmel hernieder, wir aber tappen und stolpern in einem hungergepeinigten Land umher. »Zwischen Weinen und Erzählen spinne ich meine Tage aus.«
Einer der Hauptgründe, warum die Menschen aus anderen Religionen sich vom Glauben Gottes fernhalten und nicht zu ihm übertreten, sind Fanatismus und vernunftwidriger religiöser Eifer. Schauet zum Beispiel auf die göttlichen Worte, die an Muhammad, die Arche des Heils, das leuchtende Antlitz, den Herrn der Menschheit, gerichtet wurden und ihm geboten, einfühlsam und geduldig mit dem Volk zu sein: »streite mit ihnen auf die freundlichste Weise« (Quran 16:126). Jener Gesegnete Baum, dessen Licht »weder vom Osten noch vom Westen« (Quran 24:35) war, der über alle Völker der Erde den schützenden Schatten unermeßlicher Gnade breitete, zeigte unendliche Güte und Nachsicht in Seinem Umgang mit jedermann. Moses und Aaron erhielten mit denselben Worten den Befehl, Pharao, den Herrn der Pfähle¹, herauszufordern: »Sprecht zu ihm mit sanfter Rede!« (Quran 20: 46).
¹ »Dhu'l-Awtád« wird von Quran-Übersetzern verschieden wiedergegeben als der Durchbohrende, der Erfindungsreiche hinter den Pfählen, der Herr einer starken Herrschaft, der von Ministern Umgebene usw. »Awtád« heißt Pfähle oder Zeltstangen. vgl. Quran 38:11 und 89:9
Obwohl das vornehme Verhalten der Propheten und Heiligen Gottes weit bekannt und in der Tat bis zum Kommen der Stunde¹ in jeder Lebenslage ein ausgezeichneter Maßstab ist, dem die ganze Menschheit folgen sollte, haben doch viele Menschen diese Tugenden des überragenden Mitgefühls und der Güte vernachlässigt; sie sind ihnen fern geblieben und sind dadurch nicht zu den inneren Bedeutungen der Heiligen Bücher vorgedrungen. Die Anhänger anderer Religionen meiden sie nicht nur ängstlich; sie verstatten sich nicht einmal, jenen die allgemein übliche Höflichkeit zu erweisen. Wenn es jemandem nicht erlaubt ist, sich zu einem anderen zu gesellen, wie kann er diesen je aus der dunklen, leeren Nacht des Leugnens und des »Es gibt keinen Gott« heraus in den strahlenden Morgen des Glaubens und der Bestätigung »... außer Gott«² führen? Und wie kann er den anderen anspornen und dazu ermutigen, sich aus dem Abgrund des Verderbens und der Unwissenheit herauszuarbeiten und die Höhen des Heils und der Erkenntnis zu erklimmen?
¹ Quran 33:63: »Die Menschen werden dich nach der `Stunde` befragen. Sprich: `Das Wissen von ihr ist allein bei Gott`.« Vgl. auch 22:1, »das Erdbeben der Stunde«, usw., ferner Matthäus 24:36, 42 usw. Für die Bahá'í bezieht sich dies auf das Kommen des Báb und Bahá'u'lláhs.
² vgl. das islámische Glaubensbekenntnis, das manchmal »die zwei Zeugnisse« genannt wird: »Ich bezeuge, daß es keinen Gott außer Gott gibt und daß Muhammad der Prophet Gottes ist«.
#55Erwäget gerecht: Hätte Hanzala Nu'mán nicht mit wahrer Freundschaft behandelt, hätte er ihm nicht Güte und Gastfreundschaft erwiesen, wie hätte er dann diesen König und eine große Schar anderer Götzendiener zur Anerkennung der Einheit Gottes bringen können? Sich von den Menschen fernzuhalten, sie zu meiden, barsch zu ihnen zu sein, das alles schreckt sie ab, während Zuneigung und Rücksicht, Milde und Nachsicht ihre Herzen zu Gott hinzieht. Wollte ein wahrer Gläubiger beim Anblick eines Menschen aus fremdem Land einen Umschwung seiner Gefühle bekunden, wollte er die schrecklichen Worte äußern, die den Umgang mit Fremden verbieten und sie als »unrein« bezeichnen, so wäre der Fremde betrübt und in solchem Maße verletzt, daß er niemals den Glauben annähme, selbst wenn er sähe, wie vor seinen eigenen Augen ein Wunder geschähe und der Mond sich spaltete. Die Folge dessen, daß man ihm aus dem Wege geht, wäre nur, daß er die geringste Neigung zu Gott in seinem Herzen wieder bereute und vom Meer des Glaubens hinweg in die Wüste des Vergessens und des Unglaubens flöhe. Und nach der Heimkehr in sein Vaterland würde er in der Presse Erklärungen des Inhalts veröffentlichen, daß die und die Nation völlig bar aller Eigenschaften eines zivilisierten Volkes sei.
Wenn wir über die Verse und Beweise des Quran und die Überlieferungen von den Sternen am Himmel göttlicher Einheit, den heiligen Imámen, ein wenig nachdenken, werden wir von der Tatsache überzeugt sein, daß eine Seele, die mit den Eigenschaften wahren Glaubens begabt und mit geistigen Tugenden gekennzeichnet ist, der gesamten Menschheit gegenüber zu einem Wahrzeichen der ausgestreckten Gnadengaben Gottes wird. Denn die Eigenschaften der Gläubigen sind Gerechtigkeit und Redlichkeit; Nachsicht, Mitleid und Großzügigkeit; Rücksicht auf andere; Offenheit, Zuverlässigkeit und Treue; Liebe und Güte; Ergebenheit, Entschlossenheit und Menschlichkeit. Wenn demnach ein Mensch wahrhaft rechtschaffen ist, wird er sich aller Mittel bedienen, die die Menschenherzen anziehen; er wird sie durch die Eigenschaften Gottes zum geraden Pfad des Glaubens hinführen und sie aus dem Strom ewigen Lebens trinken lassen.
#56Heutzutage haben wir vor jedem rechtschaffenen Tun die Augen verschlossen; das dauerhafte Glück der Gesellschaft haben wir unserem eigenen, vergänglichen Profit geopfert. Wir meinen, Fanatismus und blinder Eifer gereichen uns zu Nutz und Ehr, und nicht zufrieden damit, machen wir uns wechselseitig öffentlich schlecht und schmieden Ränke gegeneinander. Wann immer wir Weisheit und Gelehrsamkeit, Tugend und Frömmigkeit zur Schau stellen wollen, beginnen wir damit, daß wir diesen oder jenen verspotten und verunglimpfen. »So einer«, sagen wir, »hat Vorstellungen, die weit vom Ziel sind, und das Verhalten von dem-und-dem läßt gleichfalls viel zu wünschen übrig. Zayd kommt nur selten den heiligen Bräuchen nach, und 'Amr ist nicht fest in seinem Glauben. Des und jenes Ansichten riechen nach Europa. Im Grunde denkt Weiß an nichts als an Rang und Namen. Gestern abend, als sich die Versammlung zum Gebet erhob, war sie aus der Reihe geraten, und es ist nicht erlaubt, einem anderen Führer zu folgen. Diesen Monat ist noch kein Reicher gestorben, noch kein Almosen ist zum Gedenken an den Propheten gestiftet worden. Das Haus der Religion ist verfallen, die Grundlagen der Bekenntnisse sind in alle Winde zerstreut. Der Teppich des Glaubens ist zusammengerollt, die Zeichen der Gewißheit sind ausgelöscht; die ganze Welt ist in Irrtum verfallen; wenn es darauf ankommt, der Gewaltherrschaft zu widerstehen, sind alle sanftmütig und träge. Tage und Monde ziehen dahin, und diese Dörfer und Landgüter gehören immer noch denselben Eigentümern wie letztes Jahr. In unserer kleinen Stadt gab es früher siebzig verschiedene Behörden, die gut und ordentlich arbeiteten, aber ihre Zahl hat ständig abgenommen; jetzt sind nur noch fünfundzwanzig übrig, zum Andenken. Früher ließ derselbe Muftí jeden Tag zweihundert widersprüchliche Urteile ergehen, heute bekommen wir kaum fünfzig. Damals waren Massen von Leuten verrückt nach Prozessen; jetzt halten sie alle Frieden. Damals unterlag am einen Tag der Kläger, und der Beklagte trog den Sieg davon; tags darauf gewann dann der Kläger den Prozeß und der Beklagte verlor ihn - aber jetzt ist auch diese vorzügliche Praxis aufgegeben worden. Was für eine heidnische Religion ist das, was für ein götzendienerischer Irrtum! Wehe um das Gesetz, wehe um den Glauben, wehe um all dieses Unheil! O ihr Brüder im Glauben! Dies ist fürwahr das Ende der Welt! Das jüngste Gericht ist im Kommen!«
#57Mit solchen Reden bestürmen sie die Gemüter der hilflosen Massen und bringen die Herzen der Armen durcheinander, die ohnehin verwirrt sind, die nichts über die wahre Sachlage und die reelle Grundlage des ganzen Geschwätzes wissen und denen die Tatsache völlig unbewußt bleibt, daß tausend eigensüchtige Zwecke hinter der vermeintlich gläubigen Beredsamkeit gewisser Individuen verborgen liegen. Die Armen bilden sich ein, Redner dieser Art seien von tugendhaftem Eifer getrieben. In Wahrheit erheben solche Leute ein großes Zetergeschrei, weil sie in der Wohlfahrt der Massen ihren persönlichen Ruin sehen und wähnen, ihr eigenes Licht ginge aus, wenn dem Volk die Augen geöffnet würden. Nur besonderer Scharfsinn wird dessen gewahr, daß die Herzen dieser Menschen, wenn sie wirklich von Rechtschaffenheit und Gottesfurcht getrieben wären, dem Moschus gleich ihren Duft überallhin verbreiten würden. Nichts in der Welt läßt sich allem durch Worte vertreten.
Doch diese Unglücksvögel taten Böses nurwenn selbst im Rohr die Dommel seine Töne schlägt?¹
¹ vgl Quran 27:20 ff.Die geistig Gebildeten, jene, die grenzenlose Bedeutung und Weisheit aus dem Buch Göttlicher Offenbarung herleiten und deren erleuchtete Herzen aus der unsichtbaren Welt Gottes Eingebung empfangen, geben sich gewißlich alle Mühe, um die Vorherrschaft der wahren Anhänger Gottes in jeder Hinsicht und über alle Völker herbeizuführen; sie mühen sich und kämpfen dafür, daß alle Mittel eingesetzt werden, die den Fortschritt bewirken. Wenn jemand diese hohen Ziele vernachlässigt, kann er sich niemals als annehmbar vor dem Antlitz Gottes erweisen: Er sticht hervor durch alle seine Fehler und beansprucht dennoch Vollkommenheit; mittellos steht er da und täuscht Reichtum vor.
Ein blinder Faulpelz ist ein armer Mann,Der eine Echo nur, und sei's auch klar und scharf,
der andere David gleich, Psalmist mit seiner Harf'.
Erkenntnis, Reinheit, Hingabe, Selbstzucht, Unabhängigkeit haben mit äußerer Erscheinung und Kleidung nichts zu tun. Im Verlauf meiner Reisen hörte ich eine bekannte Persönlichkeit die folgende bedeutsame Bemerkung machen, deren Witz und Anmut sich in mein Gedächtnis eingegraben hat: »Nicht jeder Turban eines Mullás ist Beweis für Keuschheit und Erkenntnis; nicht jeder Hut eines Laien ist ein Zeichen für Unwissenheit und Unmoral. Wie mancher Hut hat schon stolz das Banner der Erkenntnis gehißt, und wie mancher Turban hat das Gesetz Gottes in den Staub gezerrt!«
#58Die dritte Forderung des heiligen Textes, den wir hier besprechen, ist, »seinen Leidenschaften zu widerstehen«. Wunderbar sind die Folgerungen, die sich aus diesem scheinbar einfachen, doch umfassenden Wort ergeben. Es enthält die wirkliche Grundlage jeder menschlichen Tugend; in der Tat verkörpern diese wenigen Silben das Licht der Welt, den unumstößlichen Unterbau aller geistigen Attribute des Menschen. Es ist das Steigrad im Uhrwerk des guten Betragens, das Mittel, alle edlen Eigenschaften eines Menschen im Gleichgewicht zu halten.
Leidenschaft ist eine Flamme, die schon ungezählte Male die Ernte des Lebens vieler Gebildeter in Asche verwandelt hat, ein allverzehrendes Feuer, das sich selbst mit dein Meer ihres aufgespeicherten Wissens nicht löschen ließ. Wie oft ist es schon geschehen, daß jemand mit allen Attributen des Menschentums gesegnet war, das Kleinod wahren Verstehens besaß, aber dennoch seinen Leidenschaften nachging, bis seine außergewöhnlichen Eigenschaften die Grenzen der Mäßigung überschritten und er sich zu Ausschweifungen hinreißen ließ. Seine guten Absichten wandelten sich zum Bösen, seine Anlagen waren nicht länger auf Ziele gerichtet, die ihrer wert waren, und die Macht seiner Begierden lenkte ihn von der Rechtschaffenheit und ihrem Lohn ab auf gefährliche und dunkle Wege. In den Augen Gottes, Seiner Erwählten und aller Einsichtsvollen ist ein guter Charakter das Erhabenste und Lobenswerteste, was es gibt, jedoch immer unter der Voraussetzung, daß die Quelle seiner Ausstrahlung Vernunft und Erkenntnis sind, und daß er wahre Mäßigung zur Grundlage hat. Wollten wir die tiefen Zusammenhänge dieses Gegenstands hier so ausbreiten, wie sie es verdienen, dann würde dieser Schriftsatz zu sehr anschwellen, und wir würden unser Hauptthema aus den Augen verlieren.
Trotz ihrer vielgepriesenen Zivilisation sind alle Völker Europas versunken und ertrunken in diesem furchtbaren Meer der Leidenschaft und Begierde, und das ist der Grund, warum alle Erscheinungen ihrer Kultur zu nichts führen. Niemand sollte über diese Feststellung erstaunt sein oder sie beklagen. Dafür, daß machtvolle Gesetze niedergelegt, hohe Grundsätze aufgestellt und Einrichtungen geschaffen werden, die sich mit jedem Gesichtspunkt der Zivilisation befassen, ist das Glück der Menschen der oberste Zweck, der tiefste Grund. Dieses Glück der Menschen jedoch besteht ausschließlich darin, der Schwelle Gottes, des Allmächtigen, näher zu kommen und den Frieden und die Wohlfahrt jedes einzelnen Angehörigen des Menschengeschlechts, sei er hoch oder niedrig, zu sichern; und die besten Mittel, dieses zweifache Ziel zu erreichen, sind die hervorragenden Tugenden, die der Menschenwelt, verliehen worden sind.
#60Eine oberflächliche Zivilisation, die nicht von kultivierter Sittlichkeit getragen wird, ist »ein verworrener Mischmasch von Träumen« (Quran 12:44, 21:5), und äußerlicher Glanz ohne inwendige Vollkommenheit ist »wie ein Dunst in der Wüste, den der Dürstende für Wasser hält« (Quran 24:39). Denn eine rein äußerliche Zivilisation kann niemals Ergebnisse zeitigen, die das Wohlgefallen Gottes finden und für Frieden und Wohlfahrt der Menschen Gewähr leisten.
Die Völker Europas haben sich noch nicht zu der höheren Stufe sittlicher Kultur erhoben, wie ihre Ansichten und ihr Verhalten klar beweisen. Sehet zum Beispiel, wie es das oberste Ziel der europäischen Regierungen und ihrer Völker heutzutage ist, einander zu überwinden und zu vernichten, und wie sie, obwohl sie insgeheim tiefste Abneigung gegeneinander liegen, doch ihre Zeit damit verbringen, Äußerungen nachbarlicher Liebe, Freundschaft und Harmonie miteinander auszutauschen.
Bekannt ist der Fall von dem Herrscher, der Frieden und Gelassenheit um sich verbreitet und gleichzeitig mehr Kraftaufwand als die Kriegshetzer darauf verwendet, Waffen anzuhäufen und eine noch größere Armee aufzubauen mit der Begründung, daß Frieden und Eintracht nur mit Gewalt herbeigeführt werden könnten. Unter dem Vorwand des Friedens bietet man Tag und Nacht alle Kräfte auf, um noch mehr Kriegsgerät zusammenzutragen, und das unglückliche Volk muß den größten Teil dessen, was es unter Mühe und Schweiß erwirbt, aufbringen, um für diese Rüstung zu bezahlen. Wie viele haben ihre Arbeit in nutzbringenden Gewerben aufgegeben und mühen sich Tag und Nacht, neue, immer tödlichere Waffen herzustellen, mit denen das Blut des Menschengeschlechts noch reichlicher als zuvor vergossen werden kann.
Jeden Tag erfindet man neue Bomben und Sprengstoffe, und dann sind die Regierungen gezwungen, ihre veralteten Waffen wegzuwerfen und damit zu beginnen, die neuen herzustellen, weil sich die alten gegen die neuen Waffen nicht behaupten können. So worden zum Beispiel zur Zeit dieser Niederschrift, im Jahr 1875, in Deutschland ein neues Gewehr und in Österreich eine neue Kanone entwickelt, die größere Feuerkraft als das Martini-Henry-Gewehr und die Krupp-Kanone haben, eine schnellere Schoßfolge zulassen und noch wirkungsvoller im Auslöschen menschlichen Lebens sind. Und die überwältigenden Kosten all dessen müssen die unglücklichen Massen tragen.
#61Urteilt gerecht: Kann diese Zivilisation dem Namen nach den Frieden und die Wohlfahrt des Volkes herbeiführen oder das Wohlgefallen Gottes finden, solange sie nicht von einer wahren Zivilisation des Charakters getragen wird? Zerstört sie nicht vielmehr den Wohlstand des Menschen und reißt die Pfeiler des Glücks und des Friedens nieder?
Während des französisch-preußischen Krieges, im Jahr 1870 christlicher Zeitrechnung, starben den Berichten zufolge sechshunderttausend Männer zerbrochen und zerschlagen auf dem Schlachtfeld. Wieviele Wohnstätten wurden bis auf die Grundmauern zerstört, wieviele Städte, die im Abendrot noch blühten, waren am Morgen darauf Trümmerhaufen! Wieviele Kinder blieben verwaist und verlassen zurück, wieviele alte Väter und Mutter mußten mitansehen, wie ihre Söhne, die jugendfrischen Früchte ihres Lebens, sich sterbend in Staub und Blut krümmten! Wieviele Frauen worden Witwen ohne Helfer und Beschützer!
Weiter waren da die Bibliotheken und Kunstdenkmäler Frankreichs, die in Flammen aufgingen, die Militärkrankenhäuser, vollgepackt mit Kranken und Verwundeten, die in Brand geschossen und vernichtet wurden. Es folgten die furchtbaren Ereignisse der Kommune, barbarische Szenen mit Verderben und Schrecken, als sich feindliche Parteien in den Straßen von Paris bekämpften und töteten. Später kamen die Haßausbrüche und Feindseligkeiten zwischen den katholischen Religionsführern und der deutschen Regierung. Es gab Bürgerkrieg und Aufruhr, Blutvergießen und Verheerungen zwischen den Parteigängern der Republik und den Karlisten in Spanien.
#62Nur zu viele solche Nachweise stehen zur Verfügung, um die Tatsache zu untermauern, daß Europa moralisch unzivilisiert ist. Da der Verfasser nicht den Wunsch hegt, irgendjemandes Ehre zu beflecken, beschränkt er sich auf diese wenigen Beispiele. Es versteht sich, daß kein menschlicher Geist mit gesundem Wahrnehmungsvermögen, der über die Tatsachen unterrichtet ist, solche Vorkommnisse gutheißen kann. Ist es recht und billig, daß Völker, unter denen derart schreckliche, den Maßstäben menschlichen Wohlverhaltens genau entgegengesetzte Ereignisse ablaufen, den Anspruch auf eine wirkliche, angemessene Kultur erheben? Noch dazu, wenn aus alledem kein anderes Ergebnis als ein vorübergehender Sieg erwartet werden kann? Da ein solches Ergebnis niemals von Dauer ist, lohnt es in den Augen der Weisen den Aufwand nicht.
Immer wieder in den vergangenen Jahrhunderten hat der deutsche Staat die Franzosen bezwungen, immer wieder hat das französische Königreich deutsches Land beherrscht. Ist es da statthaft, daß in unseren Tagen sechshunderttausend hilflose Geschöpfe solchen äußerlichen, vorübergehenden Zwecken und Zielen zum Opfer gebracht werden? Nein, bei Gott dem Herrn! Selbst ein kleines Kind erkennt mit Leichtigkeit, wie böse dies alles ist. Dennoch hüllen triebhafte Leidenschaft und Begierden die Augen in tausend Schleier, die aus den Herzen aufsteigen und das äußere wie das innere Wahrnehmungsvermögen blind machen.
Voll Gier drängt das Selbst zur Tür hereinWahre Kultur wird ihr Banner mitten im Herzen der Welt entfalten, sobald eine gewisse Zahl ihrer vorzüglichen, hochgesinnten Herrscher - leuchtende Vorbilder der Ergebenheit und Entschiedenheit - mit festem Entschloß und klarem Blick daran geht, den Weltfrieden zu stiften. Sie müssen die Friedensfrage zum Gegenstand allgemeiner Beratung machen und mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln versuchen, einen Weltvölkerbund zu schaffen. Sie müssen einen verbindlichen Vertrag und einen Bund schließen, dessen Verfügungen vernünftig, unverletzlich und bestimmt sind. Diesen Vertrag müssen sie der ganzen Welt bekannt geben und die Bestätigung des gesamten Menschengeschlechts für ihn erlangen.
Ein derart erhabenes und edles Unternehmen - der wahre Quell des Friedens und Wohlergehens für die ganze Welt - sollte allen, die auf Erden wohnen, heilig sein. Alle Kräfte der Menschheit müssen frei gemacht werden, um die Dauer und Beständigkeit dieses größten aller Bündnisse zu sichern. In diesem allumfassenden Vertrag sollten die Grenzen jedes einzelnen Landes deutlich festgelegt, die Grundsätze, die den Beziehungen der Regierungen untereinander zugrunde liegen, klar verzeichnet und alle internationalen Vereinbarungen und Verpflichtungen bekräftigt werden. In gleicher Weise sollte der Umfang der Rüstungen für jede Regierung genauestens umgrenzt werden, denn wenn die Zunahme der Kriegsvorbereitungen und Truppenstärken in irgendeinem Land gestattet wäre, so würde dadurch das Mißtrauen anderer geweckt. Die Hauptgrundlage dieses feierlichen Vertrages sollte so verankert werden, daß bei einer späteren Verletzung irgendeiner Bestimmung durch irgendeine Regierung sich alle Regierungen der Erde erheben, um jene wieder zu voller Unterwerfung unter den Vertrag zu bringen, nein, die Menschheit als Ganzes sollte sich entschließen, mit allen ihr zu Gebote stehenden MitteIn jene Regierung zu vernichten. Wird dieses größte aller Heilmittel auf den kranken Körper der Welt angewandt, so wird er sich gewiß wieder von seinen Leiden erholen und dauernd bewahrt und heil bleiben.
Wenn solche erfreulichen Zustände einträten, mußte keine Regierung mehr ständig Waffen speichern oder sich gezwungen sehen, immer neues Kriegsgerät herzustellen, um damit die Menschheit zu unterwerfen. Eine kleine Streitmacht für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung, die Verfolgung von Verbrechern und Asozialen und die Verhütung örtlicher Unruhen würde genügen - nichts weiter. Auf diese Weise wäre die ganze Weltbevölkerung von der drückenden Last der Rüstungsausgaben befreit; außerdem brauchten zahllose Leute nicht länger ihre Zeit darauf zu verschwenden, ständig neue Vernichtungswaffen zu ersinnen, neue Beweise der Habsucht und Blutgier zu liefern, die in unvereinbarem Widerspruch zu den Gnadengaben des Lebens stehen. Stattdessen könnten sie ihren Eifer darauf richten, solche Geräte herzustellen, die das Leben erleichtern, Frieden und Wohlstand fördern, und könnten so dem Fortschritt und der Wohlfahrt der ganzen Welt dienen. Jede Nation auf Erden würde dann in Ehren regiert, und jedes Volk fühlte sich geborgen in Ruhe und Zufriedenheit.
Einzelne, welche die im menschlichen Streben ruhende Kraft nicht kennen, halten diesen Gedanken für völlig undurchführbar, ja für jenseits dessen, was selbst die äußersten Anstrengungen des Menschen je erreichen können; doch ist dies nicht der Fall. Im Gegenteil kann dank der unerschöpflichen Gnade Gottes, der Herzensgüte Seiner Begünstigten, den beispiellosen Bemühungen weiser und fähiger Seelen und den Gedanken der unvergleichlichen Führer dieses Zeitalters nichts, was es auch sei, als unerreichbar angesehen werden. Eifer, unermüdlicher Eifer ist nötig. Nur unbezähmbare Entschlußkraft kann das Werk vollbringen. Manches hat man in vergangenen Zeiten als reines Hirngespinst betrachtet; heute ist es leicht durchführbar geworden. Warum sollte diese wichtigste und erhabenste Sache - das Tagesgestirn am Himmelszelt wahrer Kultur und die Ursache des Ruhmes, des Fortschritts, des Wohlergehens und Erfolges der ganzen Menschheit - unmöglich sein? Der Tag wird sicher kommen, an dem ihr klares Licht Erleuchtung über die gesamte Menschheit gießen wird¹.
¹ Dieser Abschnitt wurde von Shoghi Effendi übersetzt und in `The World Order of Bahá'u'lláh`, p.37-38 zitiert. Vgl. Bahá'í-Studientexte II, 2 »Göttliche Weltordnung«, Frankfurt 1952, p.2f
#65Wenn die Kriegsvorbereitungen im heutigen Umfang fortgeführt werden, erreichen die Rüstungen bald einen Stand, auf dem sie der Menschheit unerträglich werden. Wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht, bestehen Ruhm und Größe des Menschen nicht darin, daß er nach Blut dürstet und wie ein Tiger scharfe Klauen besitzt, daß er Städte zerstört und Verwüstung anrichtet, ganze Armeen und Scharen friedlicher Bürger abschlachtet. Dagegen würde es eine glänzende Zukunft für ihn bedeuten, wenn er für seine Gerechtigkeitsliebe bekannt wäre, allem Volk, ob hoch oder niedrig, Güte bezeigte, Länder Und Städte, Dörfer und Provinzen aufbaute, das Leben erleichterte und für seine Mitmenschen glücklich und friedvoll gestaltete, wenn er die Grundsätze des Fortschritts niederlegte, den Lebensstandard und Wohlstand der ganzen Bevölkerung erhöhte.
Sehet, wie in der Geschichte so mancher König seinen Thron auf Eroberungen gründete. Unter ihnen waren Dschingis Khan und Tamerlan, die sich den weiten Erdteil Asien unterwarfen, Alexander von Mazedonien und Napoleon I., die ihre anmaßenden Hände über drei der fünf Kontinente ausstreckten. Und was brachten alle ihre machtvollen Siege ein? Kam dadurch irgendein Land zur Blüte? Wurde Glück hervorgerufen? Blieb einer ihrer Throne bestehen? Oder haben nicht vielmehr ihre Dynastien bald wieder die Macht verloren? Abgesehen davon, daß Asien in den Flammen zahlloser Schlachten aufging und in Asche fiel, brachten seine Eroberungen Dschingis Khan, dem Kriegsherrn, nichts ein. Tamerlan erntete von all seinen Triumphen nur die Gewalt über Völker, die in alle Winde zerstoben waren, und allgemeines Elend. Alexander hatte von seinen gewaltigen Siegen nichts, als daß sein Sohn vom Throne stürzte und die Diadochen die Herrschaft über die Länder, die er regierte, an sich rissen. Und was erreichte Napoleon I. aus der Unterwerfung der Könige Europas anderes als die Zerstörung blühender Länder, den Niedergang ihrer Bewohner, die Verbreitung von Not und Schrecken über ganz Europa und, am Ende seiner Tage, seine eigene Gefangenschaft? Soviel über die Eroberer und die Denkmäler, die sie sich setzten.
#66Vergleichet damit die ruhmreichen Tugenden und die vornehme Größe Anúshirváns des Edlen und Gerechten¹. Als dieser hochgesinnte Herrscher an die Macht kam, war der einstmals festgegründete Thron Persiens dem Zusammenbruch nahe. Mit göttlich begabtem Urteilsvermögen legte er die Grundlagen der Gerechtigkeit, rottete Unterdrückung und Gewalt aus und sammelte das Volk Persiens unter den schützenden Schwingen seiner Herrschaft. Dank dem erneuernden Einfluß seiner ständigen Bemühungen wurde Persien, das trostlos und verdorrt am Boden lag, neu belebt und erholte sich rasch. Er baute die zerschlagenen Kräfte seines Staates wieder auf und stärkte sie neu. Der Ruf seiner Redlichkeit und Gerechtigkeit erscholl über die ganze Welt, bis sich die Völker aus ihrer Erniedrigung und ihrem Elend zu den Höhen des Ruhmes und des Glücks erhoben. Obwohl er ein Magier war, sagte Muhammad, der Mittelpunkt der Schöpfung, die Sonne des Prophetenamtes, von ihm: »Ich wurde zur Zeit eines gerechten Königs geboren«, und Er frohlockte, daß Er während seiner Herrschaft auf diese Welt gekommen war. Hat nun diese erlauchte Persönlichkeit ihre erhabene Stufe durch bewundernswürdige Eigenschaften erlangt oder etwa dadurch, daß sie dazu ausholte, die Erde zu erobern und das Blut ihrer Völker zu vergießen? Bedenket, er erwarb sich einen so hohen Rang im Herzen der Welt, daß seine Größe durch die Unbeständigkeit der Zeiten bis auf unsere Tage dringt und er ewiges Leben erwarb.
¹ Khusrow I., Sassanidenkönig, der 531-579 n. Chr. regierte
#67Wollten wir uns über das Fortleben großer geschichtlicher Gestalten auslassen, würde diese kurze Abhandlung unziemlich in die Länge gezogen, und da es keineswegs feststeht, daß die öffentliche Meinung Persiens durch solche Lektüre wesentlich beeinflußt wird, wollen wir diese Arbeit beschränken und zu denjenigen Fragen voranschreiten, die im Blickfeld der Öffentlichkeit liegen. Sollte es sich jedoch erweisen, darf diese Kurzfassung günstige Ergebnisse zeitigt, werden wir, so Gott will, eine Anzahl Bücher schreiben, die sich ausführlich und nutzbringend mit den Grundsätzen göttlicher Weisheit in ihrem Bezug auf die Erscheinungswelt befassen.
Keine Macht der Erde kommt gegen die Armeen der Gerechtigkeit an, und jede Feste muß vor ihnen fallen; denn die Menschen beugen sich willig unter den siegreichen Schlägen dieser entscheidenden Waffe, und zerfallene Städte blühen wieder auf unter den Füßen dieser Schar. Zwei mächtige Banner sind es, deren Schatten, wenn er auf die Krone eines Königs fällt, bewirkt, daß der Einfluß seines Regiments rasch und leicht wie das Licht der Sonne die ganze Erde umfängt. Das erste ist das Banner der Weisheit, das zweite dasjenige der Gerechtigkeit. Gegen diese beiden mächtigsten Streitkräfte können selbst Berge von Eisen nichts ausrichten, und die Mauer Alexanders bricht vor ihnen in Stücke. Das Leben in dieser vergänglichen Welt ist so flüchtig und unbeständig wie der Morgenwind. Wie glückhaft ist es deshalb um jene großen Menschen bestellt, die einen guten Namen und die Erinnerung an ein Lebenswerk hinterlassen, das auf dem Pfade des Wohlgefallens Gottes verbracht wurde.
Ob unter Thrones Baldachin¹ Sa'adi: »Gulistan«, über die Lebensführung der Könige.
Ein Feldzug kann eine lobenswerte Tat sein, und es gibt Zeiten, zu denen der Krieg die mächtige Grundlage des Friedens, der Untergang das Mittel zum Wiederaufbau ist. Wenn zum Beispiel ein hochgesinnter Herrscher seine Truppen ins Feld führt, um das Vordringen eines Aufrührers oder eines Angreifers von außen abzuwenden, wenn er sich mit Heeresmacht anschickt, ein entzweites Staatsvolk zu einigen, kurz, wenn er eine gerechte Sache verficht, dann ist dieser scheinbare Grimm Gnade, diese äußerliche Gewaltanwendung wirkliche Gerechtigkeit und ein Feldzug der Grundstein des Friedens. Heute ist jedoch die Aufgabe, die einem großen Herrscher zukommt, die Errichtung des Weltfriedens, denn darin liegt die Freiheit aller Völker beschlossen.
#68Der vierte Abschnitt der früher wiedergegebenen Äußerung über den Weg des Heils lautet: »... die Gebote seines Herrn befolgen.« Ohne Zweifel besteht des Menschen höchste Würde darin, daß er seinem Gott gegenüber demütig und gehorsam ist, und des Menschen größte Ehre und Herrlichkeit, seine erhabenste Stufe ist bedingt durch die genaue Befolgung der göttlichen Gebote und Verbote. Die Religion ist das Licht der Welt; Fortschritt, Erfolg und Glück des Menschen sind das Ergebnis seines Gehorsams gegenüber den Gesetzen, die in den heiligen Büchern niedergelegt sind. Kurz, es läßt sich nachweisen, daß in diesem Leben - sowohl nach äußerlichen als auch nach geistigen Gesichtspunkten betrachtet - die Religion das mächtigste Bollwerk, der sicherste, dauerhafteste und beständigste Schutz für die ganze Welt ist. Sie ist die Gewähr für die geistigen wie die materiellen Vollkommenheiten der Menschheit und beschirmt das Glück und die Kultur der Gesellschaft.
Es gibt tatsächlich Toren, die die Grundwahrheiten der göttlichen Religionen niemals richtig prüfen, vielmehr das Verhalten einiger weniger Heuchler zum Maßstab nehmen und alle gläubigen Menschen mit diesem Zollstock messen. So kommen sie zu der Auffassung, die Religionen seien ein Hindernis für den Fortschritt, eine Ursache der Teilung, der Böswilligkeit und der Feindschaft zwischen den Menschen. Sie haben nicht einmal bemerkt, daß die Grundsätze der göttlichen Religionen nicht nach den Taten derjenigen gewertet werden können, die nur vorgeben, sie zu befolgen. Alles Erhabene, so unvergleichlich es sein mag, kann zu bösen Zwecken mißbraucht werden. Eine brennende Lampe in der Hand eines unwissenden Kindes oder eines Blinden wird nicht das Dunkel zerstreuen und das Haus erhellen, sondern den Träger wie das Haus in Flammen setzen. Können wir da der Lampe die Schuld geben? Nein, bei Gott dem Herrn! Dem Sehenden ist die Lampe eine Führung und zeigt ihm den Weg, aber dem Blinden bringt sie verderben.
#69Unter denen, die den religiösen Glauben verleugneten, befand sich der Franzose Voltaire, der eine große Anzahl Bücher schrieb, in denen er die Religionen angriff - Machwerke, die nicht mehr taugen als Kindertand. Dieser Mensch nahm die Taten und Unterlassungen des Papstes, des Oberhaupts der römisch-katholischen Kirche, und die Streitigkeiten der geistlichen Führer der Christenheit zu seinem Maßstab, tat den Mund weit auf und lästerte gegen den Geist Gottes (Jesus). In seinen verschrobenen Gedankengängen verfehlte er den wahren Sinn der heiligen Schriften; er stieß sich an gewissen Stellen in den offenbarten Texten und hielt sich bei den Versen auf, die ihm darin unverständlich waren. »Wir haben vom Quran das herniedergesandt, was den Gläubigen Heilung und Gnade bringt; den Frevlern aber wird es das verderben nur noch mehren« (Quran 17:84).
Der Greis von Ghazna¹ sprach in einem Gleichnis,¹ der Dichter Saná'í ² Rúmí: Mathnaví III 4229-4231
»Viele wird Er durch solche Gleichnisse irreleiten, viele den rechten Weg führen; aber nur die Frevler wird Er irreleiten« (Quran 2:24).
Fürwahr, das stärkste der Mittel, die den Ruhm und den Fortschritt des Menschen bewirken, die höchste Wirkkraft für die Aufklärung und Erlösung der Welt sind Liebe, Freundschaft und Einheit zwischen allen Gliedern des Menschengeschlechts. Nichts in der Welt ist durchführbar, ja nicht einmal denkbar, ohne Einheit und Einklang, und das vollkommene Mittel, Freundschaft und Einheit zu bewirken, ist wahre Religion. »Hättest Du auch alle Schätze der Erde verschwendet, Du hättest ihre Herzen doch nicht vereinigen können; aber Gott hat sie vereinigt ...«
#70Jedesmal, wenn die Offenbarer Gottes auftreten, führt ihre Macht, wahre Einheit des Herzens wie auch der äußerlichen Lebensgestaltung zu schaffen, feindselige Völker, die einander nach dem Leben trachteten, unter dem Schutz des Wortes Gottes zusammen. Dann werden hunderttausend Herzen verschmolzen, und aus zahllosen Einzelwesen entsteht ein Gesellschaftskörper.
Einst waren sie wie die Wogen der See,¹ vgl. Rúmí, Mathnavi II, 185 und 189, ferner die Hadíth: »Gott schuf die Geschöpfe in Finsternis, dann streute Er etwas von Seinein Licht über sie. Diejenigen, auf die etwas von diesem Licht fiel, nahmen den rechten Weg, während die, die es nicht traf, vom geraden Pfad abirrten.« Vgl. R.A.Nicholson, The Mathnawí of Jalalu'ddín Rúmí, in E.J.W.Gibb Memorial Series.
Die Ereignisse beim Kommen der Propheten vergangener Zeiten, ihr Leben, ihre Taten und die Umstände, die sie antrafen - all dies ist nur unzureichend in den geschichtlichen Quellen festgehalten; im Quran, in den heiligen Überlieferungen und in der Torah wird darauf nur in zusammengefaßter Form Bezug genommen. Da jedoch alle Begebenheiten seit den Tagen Moses bis auf die heutige Zeit im mächtigen Quran, in den beglaubigten Überlieferungen, der Torah und anderen verläßlichen Quellen beschlossen sind, wollen wir uns hier mit einigen kurzen geschichtlichen Beispielen begnügen, um überzeugend klarzustellen, ob die Religion die eigentliche Grundlage, der Ausgangspunkt der Kultur und der Zivilisation ist oder ob sie, wie Voltaire und seinesgleichen annehmen, allen sozialen Fortschritt, Wohlstand und Frieden vereitelt.
Um Einwänden von seiten irgendeines Volkes der Erde ein für alle Male entgegenzutreten, werden wir unsere Erörterung auf jene bestätigten Chroniken stützen, in denen sich alle Nationen einig sind.
#71Als die Israeliten in Ägypten an Zahl so gewachsen waren, daß sie sich über das ganze Land verbreitet hatten, beschlossen die koptischen Pharaonen Ägyptens, ihre koptischen Untertanen zu unterstützen und zu begünstigen, die Kinder Israels hingegen, die sie als fremde Eindringlinge betrachteten, zu erniedrigen und zu entehren. Lange Zeit wurden die Juden, weit verstreut und zersplittert wie sie waren, zu Gefangenen in der Hand der tyrannischen Kopten; von allen wurden sie verlacht und verachtet, und der Geringste der Kopten konnte die vornehmsten Israeliten ungestraft knechten und verfolgen. Das Elend und die hilflose Knechtschaft der Hebräer gingen so weit, daß sie bei Tag und Nacht ihres Lebens nicht mehr sicher waren und nicht wußten, wie sie ihre Frauen und Kinder vor dem gewalttätigen Zugriff ihrer pharaonischen Zwingherren schützen sollten. Die Splitter ihrer gebrochenen Herzen waren ihre tägliche Speise und ein Strom von Tränen ihr Trank.
In dieser Qual vegetierten sie dahin, bis plötzlich Moses, der Allherrliche, das Licht des Göttlichen aus dem gesegneten Tal, aus der Stätte der Heiligkeit strömen sah und die lebenspendende Stimme Gottes vernahm, wie sie aus der Flamme des Busches sprach, der »weder vom Osten noch vom Westen« (Quran 24:35) ist. Und Er erhob sich in der vollen Rüstung seines Offenbarertums. Wie eine Leuchte göttlicher Führung erstrahlte Er inmitten der Israeliten, und durch das Licht des Heils geleitete Er jenes verlorene Volk aus den Schatten der Unwissenheit zu Erkenntnis und Vollkommenheit. Er sammelte die zerstreuten Stämme Israels unter dem Schutz des einenden, alles umfassenden Wortes Gottes, und über den Höhen der Vereinigung pflanzte Er das Banner der Eintracht auf. Auf diese Weise erlangten jene unwissenden Menschen in kürzester Zeit geistige Erziehung; sie, denen die Wahrheit bisher fremd war, fanden sich im Glauben an die Einheit Gottes zusammen, und ledig ihres Elends, ihrer Armut, ihres Unverstands und ihrer Knechtschaft erreichten die die höchste Stufe der Ehre und des Glücks. Sie zogen aus Ägypten fort, machten sich auf nach ihrer ursprünglichen Heimat und kamen nach Kanaan und Philisterland. Zunächst eroberten sie die Ufer des Jordan und Jericho, dann siedelten sie sich in diesem Gebiet an, und schließlich gerieten alle Nachbarländer wie Phönizien, Edom und Ammon unter ihren Einfluß. In der Zeit Josuas waren einunddreißig Staatsgebiete in der Hand der Israeliten, und in jeder edlen menschlichen Eigenschaft - Gelehrsamkeit, Standhaftigkeit, Entschlossenheit, Mut, Ehrenhaftigkeit, Freigiebigkeit - stellte dieses Volk alle anderen auf der Erde in den Schatten. Wenn in jenen Tagen ein Israelite unter andere Menschen kam, tat er sich sofort durch seine vielen Tugenden hervor, und Angehörige anderer Völker, die jemanden loben wollten, sagten, er sei wie ein Jude.
In zahlreichen Geschichtswerken wird darüber hinaus berichtet, daß die Philosophen Griechenlands wie etwa Pythagoras den größten Teil ihrer Weltanschauung - im Sinne der Gottesgelehrsamkeit wie des Naturverständnisses - von den Schülern Salomons erwarben. Und Sokrates, der unermüdlich gereist war, um den berühmtesten Gelehrten und Priestern Israels zu begegnen, führte nach seiner Rückkehr in Griechenland die Grundbegriffe der Einheit Gottes und des ewigen Fortlebens der Menschenseele nach dem stofflichen Tode ein. Schließlich wurde dieser Mann, der die tiefsten Geheimnisse der Weisheit ausgelotet hatte, öffentlich angeklagt von den Unwissenden unter den Griechen, die sich anschickten, ihm das Leben zu nehmen; der Pöbel nötigte die Herrscher, gegen Sokrates vorzugehen, und die Ratsversammlung verurteilte diesen dazu, den Giftbecher zu leeren.
#73Nachdem die Israeliten auf jedem Gebiet des Kulturlebens vorangeschritten waren und die denkbar größten Erfolge erzielt hatten, fingen sie allmählich an, die Grundgedanken des (Mosaischen Gesetzes und Glaubens außer acht zu lassen, sich mit Riten und Zeremonien abzugeben und ein ungebührliches Betragen an den Tag zu legen. In den Tagen von Rehabeam, dem Sohn Salomons, brach verheerende Zwietracht zwischen ihnen aus. Einer unter ihnen, Jerobeam mit Namen, schmiedete Ränke, um den Thron an sich zu reißen, und er war es auch, der den Götzendienst einführte. Der Streit zwischen Rehabeam und Jerobeam mündete in jahrhundertelangen Fehden zwischen ihren Nachkommen aus, mit dem Erfolg, daß die Stämme Israels zerstreut und auseinandergerissen wurden.
Kurz, weil sie die Bedeutung des Gesetzes Gottes vergaßen, verfielen sie in einen unwissenden Fanatismus und kamen auf so verwerfliche Taten wie Empörung und Aufruhr. Ihre Geistlichen vermeinten, daß alle Wesenszüge des Menschentums, die im heiligen Buche dargetan sind, nur noch tote Buchstaben seien; sie trachteten lediglich, ihre eigenen selbstsüchtigen Belange zu verfolgen, und peinigten das Volk, indem sie es in die tiefsten Tiefen der Achtlosigkeit und Unwissenheit sinken ließen. Die Frucht all ihrer Untaten war, daß sich die Herrlichkeit der alten Zeiten, die so lange angedauert hatte, in Erniedrigung verwandelte und sie nacheinander von den Herrschern Persiens, Griechenlands und Roms übermannt wurden. Die Standarten ihrer Selbstbestimmung wurden umgestoßen, und die Unwissenheit, Torheit, Würdelosigkeit und Eigenliebe ihrer religiösen Führer und Gelehrten kam durch das Auftreten Nebukadnezars, des Königs von Bábylon, ans Licht, bevor dieser sie vernichtete. Nachdem er alles niedergemetzelt, ihre Häuser geplündert und zerstört und sogar ihre Bäume ausgerissen hatte, nahm Nebukadnezar die Reste gefangen, die sein Schwert geschont hatte, und führte sie nach Bábylon.
#74Siebzig Jahre später wurden die Nachkommen dieser Gefangenen freigelassen; sie kehrten zurück nach Jerusalem. Hesekiel und Esra richteten in ihrer Mitte die Grundsätze der Heiligen Schrift wieder auf; Tag für Tag machten die Israeliten Fortschritte, und der Morgenglanz der alten Zeit dämmerte wieder herauf. Nach kurzer Zeit jedoch kam es wieder zu Meinungsverschiedenheiten über Glaubenssätze und Lebensführung, und wieder hatten die jüdischen Gelehrten nur die eine Sorge, ihre eigenen selbstsüchtigen Ziele zu verfolgen. Die Reformen, welche die Zeit Esras bestimmten, verwandelten sich in Irrglauben und Entartung. Die Lage verschlimmerte sich so sehr, daß mehrere Male die Heere der römischen Republik das Land Israels erobern konnten. Schließlich zertrat der kriegsgewaltige Titus als Befehlshaber der römischen Streitmacht die Heimat der Juden zu staub. Die Männer ließ er alle über die Klinge springen, Frauen und Kinder führte er als Gefangene fort; ihre Häuser ließ er dem Erdboden gleichmachen, ihre Bäume ausreißen, ihre Bücher verbrennen und ihre Schätze plündern. Jerusalem und der Tempel worden in einen Aschenhaufen verwandelt.
Nach diesem überwältigenden Unheil versank der Stern des Reiches Israel ins Nichts, und bis auf den heutigen Tag blieben die Überreste dieses verschollenen Volkes in alle vier Winde zerstreut. »Erniedrigung und Elend drückten auf sie nieder« (Quran 2:8). Auf diese beiden vernichtenden Heimsuchungen, die Nebukadnezar und Titus brachten, bezieht sich der ruhmreiche Quran, wenn gesagt ist: »Und feierlich erklärten Wir den Kindern Israels in dem Buche: `Zweimal, wahrlich, sollt ihr Unheil stiften auf Erden, und mit großem Stolz und Hochmut werdet ihr euch erheben.` Und als die verheißene Drohung zum erstenmal erfüllt werden sollte, sandten Wir Unsere Diener gegen euch aus: Leute von schrecklichem Mut. Und sie durchsuchten das Innerste eurer Wohnstätten, und erfüllt ward die Drohung ... Als nun die Strafe für eure späteren Sünden vollzogen werden sollte, sandten Wir euch einen Feind, eure Gesichter traurig zu stimmen und in euren Tempel einzudringen wie beim erstenmal, und zu zerstören und zu vernichten, was er eroberte« (Quran 17:4 ff.).
Unser Ziel ist zu zeigen, wie wahre Religion Kultur und Wurde, Wohlstand und Ansehen, Bildung und Fortschritt eines vormals elenden, unwissenden und versklavten Volkes fördert, und wie der Gottesglauben, wenn er törichten, fanatischen Religionsführern in die Hände gerät, auf schlimme Art Mißbraucht wird, bis sich sein herrlicher Glanz in schwarzes Dunkel verwandelt.
#75Zum zweitenmal hatten sich die unmißverständlichen Zeichen für Israels Zerfall, Erniedrigung, Unterjochung und Vernichtung offenbart. Da erfüllte der heilige Hauch des Geistes Gottes (Jesus) lieblich das Tal des Jordan und das Land Galiläa; die Wolken göttlichen Erbarmens überspannten jene Himmelsstriche und ergossen in Fülle die Wasser des Geistes über sie. Und nach diesem Regen aus dem Überfluß des Größten Meeres erblühte und duftete das Heilige Land in der Erkenntnis Gottes. Die Hymnen des Evangeliums erklangen und stiegen auf bis zu den Bewohnern der Himmelsgemächer, und beim Hauch des Odems Jesu erhoben die achtlosen Toten das Haupt aus den Gräbern ihrer Unwissenheit, um ewiges Leben zu empfangen. Drei Jahre lang wandelte diese Leuchte der Vollkommenheiten über die Felder Palästinas vor den Toren Jerusalems, führte alle Menschen in das Morgenlicht der Erlösung und lehrte sie, geistige Eigenschaften und gottgefällige Tugenden zu erwerben. Hätte das Volk Israel an diese herrliche Gestalt geglaubt, so hätte es sich aufgemacht, Ihm mit Leib und Seele zu dienen; durch den belebenden Hauch Seines Geistes hätte das Volk seine alte Schwungkraft wieder erlangt und neue Siege errungen.
Aber ach! Was half dies alles? Sie wandten sich ab und widersetzten sich Ihm. Sie erhoben sich nur, um Ihn zu quälen, Ihn, der die Quelle göttlicher Erkenntnis, der Dämmerort der Offenbarung war. Alle machten es so außer einer Handvoll Gläubiger, die ihr Antlitz Gott zuwandten, vom Makel dieser Welt gereinigt wurden und den Weg zu den Höhen des unsichtbaren Königreiches fanden. Jede nur denkbare Pein fügte man jenem Brunnquell der Gnade zu, bis es Ihm unmöglich wurde, in den Städten zu weilen, aber dennoch hielt Er das Banner des Heils empor und schuf feste Grundlagen für die menschliche Ehrenhaftigkeit, die der Baugrund wahrer Kultur ist.
#76Im fünften Kapitel Matthäi, Vers 39, rät Er: »Ihr sollt dem Bösen und dem Unrecht nicht mit gleichen MitteIn entgegentreten; sondern wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, so halte ihm auch die andere hin.« Und weiterhin, im 43. Vers.: »Ihr habt gehört, daß gesagt ist: `Lieben sollst du deinen Nächsten, Und deinen Feind sollst du nicht mit Feindschaft quälen`¹ Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, tut wohl denen, die euch hassen, und betet für jene, die euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr die Kinder eures Vaters im Himmel seid; denn Er läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und sendet den Regen seiner Gnade hernieder auf Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr da? Tun das nicht auch die Zöllner?«
¹ Die Luther- und die King- James-Bibel lauten: »Ihr habt gehört daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.« Gegen diese Lesart wenden die Gelehrten ein, daß sie dem bekannten Gesetzestext zuwiderläuft, wie er in 3. Mose 19:18, 2. Mose 23:4-5, Sprüche Salomos 25:21, im Talmud usw. dargestellt ist.
Zahllos waren die Ratschläge dieser Art, die jener Morgenglanz göttlicher Weisheit brachte, und Menschen, die sich durch solche Eigenschaften der Heiligkeit auszeichnen, sind die Quintessenz der Schöpfung und die Quellen wahrer Kultur.
Jesus errichtete sodann das heilige Gesetz auf der Grundlage sittlicher Charakterstärke und völliger Durchgeistigung, und für jene, die an Ihn glaubten, entwarf Er ein Leitbild der Lebensführung, das den höchsten Verhaltensmaßstab auf Erden darstellt. Obwohl jene Wahrzeichen der Erlösung äußerlich der böswilligen Verfolgung ihrer Peiniger ausgeliefert schienen, waren sie in Wirklichkeit von dem hoffnungslosen Dunkel befreit, das die Juden verschlungen hatte, und sie erstrahlten in immerwährender Herrlichkeit am Morgen dieses neuen Tages.
#77Die mächtige Nation der Juden stürzte und verfiel, aber jene wenigen Seelen, die unter dem Baum der messianischen Sendung Schutz suchten, gestalteten alles menschliche Leben neu. Alle Völker der Welt waren damals äußerst unwissend, fanatisch und götzendienerisch. Nur eine Handvoll Juden bekannte sich zum Glauben an die Einheit Gottes, und sie waren armselige Ausgestoßene. Jene heiligen Seelen der Christenheit erhoben sich nun, um eine Sache zu verkünden, die den Anschauungen der gesamten Menschenrasse völlig entgegengesetzt und zuwider war. Die Herrscher in vieren der fünf Erdteile faßten den unerbittlichen Entschluss, die Anhänger Christi zu vernichten; und dennoch schickten sich schließlich die meisten von ihnen an, den Glauben Gottes mit ganzem Herzen zu verbreiten. Alle Nationen Europas, zahlreiche Völker Asiens und Afrikas und sogar einige Einwohner der pazifischen Inseln wurden unter dem Schutz der Einheit Gottes versammelt.
Überleget, ob es in der Schöpfung ein Prinzip gibt, das in irgendeiner Hinsicht machtvoller ist als die Religion, ob eine Kraft gedacht werden kann, die durchdringender ist als die zahlreichen göttlichen Offenbarungen, ob ein Mittel irgendwelcher Art wahre Liebe, Freundschaft und Einheit zwischen allen Völkern hervorbringt, wie es der Glaube an einen allmächtigen und allwissenden Gott vermag, oder ob es außer den Gesetzen Gottes Anzeichen einer Wirkkraft für die Erziehung der ganzen Menschheit auf jeder Stufe redlicher Lebensführung gibt!
Eigenschaften, die die Philosophen erlangten, wenn sie den Höhepunkt ihrer Weisheit erklommen hatten, edle menschliche Attribute, wie sie jene Philosophen auf dem Gipfel ihrer Vollkommenheit auszeichneten, werden von den Gläubigen verwirklicht, sobald sie den Glauben angenommen haben. Bedenket, wie jene Seelen, die die lebenspendenden Wasser der Erlösung aus den huldvollen Händen Jesu, des Geistes Gottes, entgegennahmen und unter den schützenden Schatten des Evangeliums traten, eine solch hohe Ebene sittlicher Lebensführung erreichten, daß Galen, der berühmte Arzt, in seinem Abriß über Platos Republik ihre Taten pries, obwohl er selbst kein Christ war. Die wörtliche Übersetzung lautet wie folgt: »Die Masse der Menschheit ist nicht fähig, eine Folge logischer Argumente aufzunehmen. Deshalb bedarf es der Symbole und Gleichnisse, die von Belohnung und Bestrafung in der nächsten Welt sprechen. Der Beweis für diese Einsicht ist, daß es heute Leute gibt, die `Christen` genannt werden, und bei denen der Glaube an Lohn und Strafe in einem künftigen Leben tief verwurzelt ist. Diese Gruppe weist ein hervorragendes Verhalten auf, ähnlich demjenigen eines Menschen, der ein wahrer Philosoph ist. So sehen wir alle mit unseren eigenen Augen, daß sie keine Furcht vor dem Tode haben, und ihre leidenschaftliche Liebe zu Gerechtigkeit und Ehrlichkeit ist so groß, daß man sie als wahre Philosophen ansehen sollte«¹.
¹ Vgl. 'Abdu'l-Bahá, »Beantwortete Fragen«, Kapitel 84, sowie seine Ansprache vom 6. 11. 1912 in Washington, D. C., wiedergegeben in »The Promulgation of Universal Peace«, Chicago 1925, S. 385; ferner Richard Walzer, »Galen on Jews and Christians«, Oxford University Press, 1949, p.15. Der Verfasser stellt fest, daß Galens Abriß über Platos Republik, der hier angeführt wird, verschollen und nur in arabischen Zitaten erhalten geblieben ist.
#78Zu jener Zeit und in den Augen Galens war der Rang eines Philosophen allen anderen gesellschaftlichen Stufen der Welt übergeordnet. Überleget daher, wie die aufklärende und vergeistigende Kraft der göttlichen Religionen die Gläubigen zu solchen Höhen der Vollkommenheit emporführt, daß ein Philosoph wie Galen, der selbst kein Christ ist, ein derartiges Zeugnis ablegt.
Ein Beweis des hervorragenden Charakters der Christen waren auch ihre Hingabe an gute Werke der Nächstenliebe und die Tatsache, daß sie Hospitäler und andere den Menschen dienende Einrichtungen schufen. So war der erste, der im ganzen römischen Reich öffentliche Krankenhäuser für die ärztliche Pflege der Armen, verwundeten und der Hilfsbedürftigen einrichtete, Kaiser Konstantin. Dieser große König war der erste römische Herrscher, der für die Sache Christi eintrat. Er scheute keine Mühe und weihte sein Leben der Verbreitung der Grundlehren des Evangeliums. Das römische Staatswesen, das in Wirklichkeit nur ein System uneingeschränkter Unterdrückung war, gründete er auf Mäßigung und Gerechtigkeit. Sein gesegneter Name erstrahlt aus dem Dunkel der Geschichte wie der Morgenstern, und sein Ruhm, seine Stufe als einer der edelsten und kultiviertesten Persönlichkeiten des Weltgeschehens ist heute noch im Munde der Christen aller Bekenntnisse.
Welch feste Grundlage für hervorragende Charaktereigenschaften wurde doch in jenen Tagen gelegt, dank der Ausbildung hehrer Seelen, die sich aufmachten, die Lehren des Evangeliums zu verbreiten! Wieviele Volksschulen, Hochschulen und Krankenhäuser wurden geschaffen, auch Einrichtungen, in denen elternlose und bedürftige Kinder erzogen wurden! Wie zahlreich waren die Menschen, die ihren persönlichen Vorteil hintanstellten Und »aus dem Verlangen, dem Herrn zu gefallen« (Quran 4:114, 2:207 usw.) die Tage ihres Lebens damit verbrachten, die Massen zu lehren!
#79Als nun die Zeit herannahte, in der die strahlende Schönheit Muhammads über die Welt aufgehen sollte, fiel die Macht über die Christenheit unwissenden Priestern in die Hände. Der himmlische Hauch, der aus den Gefilden göttlicher Gnade strömte, verflog, und die Gesetze des erhabenen Evangeliums, der Felsgrund, auf dem die Kultur der Welt ruhte, zeitigten keine Erfolge mehr, weil sie mißbraucht wurden und weil gewisse Menschen, äußerlich vollkommen, in ihrem Innersten jedoch hohl und leer, gegen sie verstießen.
Europäische Geschichtsforscher von Rang und Namen berichten übereinstimmend, wenn sie die politischen und sittlichen Zustände, die Bildung und die Kultur des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit in allen ihren Aspekten schildern, daß während der zehn Jahrhunderte des Mittelalters, vom Beginn des sechsten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung bis zum Ende des fünfzehnten, Europa in jeder Hinsicht und in höchstem Maße finster und barbarisch war. Der wichtigste Grund ist folgender: Die Mönche, von den europäischen Völkern als geistige und religiöse Führer angesehen, hatten den bleibenden Ruhm des Gehorsams gegen die heiligen Gebote und die himmlischen Lehren des Evangeliums aufgegeben und mit den vermessenen, tyrannischen Oberhäuptern der weltlichen Regierungen jener Zeit gemeinsame Sache gemacht. Ihre Augen hatten sie, die einen wie die anderen, abgekehrt von der Herrschaft des Ewigen und all ihr Streben darauf gerichtet, ihre weltlichen Interessen, ihren vergänglichen Nutzen zu verfolgen. Schließlich kam es so weit, daß die Massen hilflose Gefangene in den Händen dieser beiden Gruppen waren und das ganze Gefüge der Religion, Kultur, Wohlfahrt und Zivilisation der Völker Europas in die Brüche ging.
#80Dieses würdelose Tun und Denken, dieses schimpfliche Streben der Mächtigen brachte den süßen Hauch des Geistes Gottes (Jesu) zum Erliegen und ließ ihn aufhören, die Erde zu umweben. Die Finsternis bigotter Unwissenheit und gottloser Taten hielt die Erde umfangen. Da leuchtete das Morgenlicht der Hoffnung wieder auf, und der göttliche Frühling kehrte zurück; eine Wolke von Barmherzigkeit spannte sich über die Welt, und aus den Gefilden der Gnade wehten die Winde der Fruchtbarkeit. Im Zeichen Muhammads erhob sich die Sonne der Wahrheit über Yathrib (Medina) und dem Hijáz; über das ganze Weltall ergoß sie das Licht ewiger Herrlichkeit. Dies verwandelte den Baugrund menschlicher Möglichkeiten, und die Worte: »Die Erde wird leuchten mit dem Lichte ihres Herrn« (Quran 39:69) waren erfüllt. Die alte Welt wurde wieder neu, und ihr toter Körper erwachte zu reichem Leben. Tyrannei und Unwissenheit wurden überwunden, und hoch ragten die Paläste der Erkenntnis und Gerechtigkeit empor, die an ihrer Statt errichtet worden. Ein Meer von Aufklärung brandete heran, und die Wissenschaft goß ihre Strahlen über alle Lande. Bevor die Flamme höchsten Prophetentums in der Lampe von Mekka entzündet wurde, waren die wilden Stämme des Hijáz das tierischste, finsterste Volk auf Erden. In allen Geschichtswerken werden übereinstimmend ihre entartete, lasterhafte Lebensführung, ihre Wildheit, ihre ständigen Fehden beschrieben. Damals betrachteten die zivilisierten Völker der Welt die arabischen Stämme von Mekka und Medina nicht einmal als menschliche Wesen. Als aber das Licht der Welt sich über ihnen erhob, worden sie - durch die Erziehung, die ihnen aus dieser Schatzgrube der Vollkommenheiten, diesem Lichtquell der Offenbarung zuteil wurde, und durch die Segnungen des göttlichen Gesetzes - innerhalb kürzester Frist unter dem Schutze des Grundsatzes der Einheit Gottes vereinigt. Später erlangte dieses tierhafte Volk eine so hohe Stufe menschlicher Vollkommenheit und Verfeinerung, daß alle Zeitgenossen darüber erstaunten. Dieselben Völker, die bisher immer die Araber verspottet und verlacht hatten, indem sie behaupteten, jene seien bar jeglichen Urteilsvermögens - diese Völker suchten nun eifrig die Gesellschaft der Araber und bereisten ihre Länder, um Bildung und Kultur, technische Fertigkeiten und Staatsklugheit, Künste und Wissenschaften zu erlernen.
#82Bedenket, welcher Einfluß auf die materiellen Verhältnisse von der Schulung durch den wahren Erzieher ausgeht! Hier waren Stämme, so unwissend und wild, daß sie in der Zeit der Jáhilíyya¹ ihre siebenjährigen Töchter lebendig begruben - eine Tat, die selbst ein Tier, geschweige denn ein menschliches Wesen, verabscheuen und vor der es zurückschrecken würde, die aber jene Stämme in ihrer unbeschreiblichen Entartung als den höchsten Ausdruck der Ehrbarkeit und Sittentreue ansahen. Dank der klaren Lehren jener großen Gestalt entwickelte sich dieses barbarische Volk in solchem Maße, daß es zunächst Ägypten, Syrien und dessen Hauptstadt Damaskus, Chaldäa, das Zweistromland und Iran eroberte und dann so weit kam, daß es jedes wichtige Problem in vier Hauptregionen des Erdballs aus eigener Kraft lösen konnte.
Die Araber übertrafen damals alle Völker der Welt in Kunst und Wissenschaft, Gewerbefleiß und Erfindergeist, Philosophie, Staatskunst und Gesittung. Und wahrlich, der Aufstieg dieser zügellosen, verachteten Horden zur höchsten Stufe menschlicher Vollkommenheit in einer so kurzen Zeitspanne ist das größte Zeugnis für die Rechtmäßigkeit der Offenbarung Muhammads.
¹ Jáhilíyya, »das Zeitalter der Unwissenheit« vor der Offenbarung Muhammads in Arabien.
#83In der Frühzeit des Islám erwarben die Völker Europas die Wissenschaften und Künste der Zivilisation vom Islám her so, wie sie die Einwohner Andalusiens lehrten und ausübten. Eine genaue, eingehende Untersuchung der geschichtlichen Aufzeichnungen wird die Tatsache bekräftigen, daß der Hauptteil der Zivilisation Europas auf den Islám zurückgeht; denn alle Schriften der muslimischen Gelehrten, Theologen und Philosophen wurden nach und nach in Europa gesammelt, mit emsiger Sorgfalt geprüft, in akademischen Versammlungen und in den Bildungszentren diskutiert, worauf das, was als wertvoll erachtet wurde, Verwendung fand. Heute sind zahlreiche Abschriften von Werken muslimischer Gelehrter, die in den islamischen Ländern nicht mehr zu finden sind, in den Bibliotheken Europas erhältlich. Auch die in allen europäischen Ländern herrschenden Gesetze und Rechtsgrundsätze sind in beträchtlichem Maße, genau genommen in ihrer Ganzheit, von den Werken muslimischer Gottesgelehrter über Rechtsprechung und von ihren Urteilssprüchen hergeleitet. Wäre nicht zu befürchten, daß sich diese Abhandlung übermäßig in die Länge zieht, wurden wir solche Entlehnungen eine nach der anderen aufführen.
Die Anfänge der europäischen Zivilisation gehen auf das siebte Jahrhundert islámischer Zeitrechnung zurück. Die näheren Umstände waren folgende: Gegen Ende des fünften Jahrhunderts nach der Hijra erhob der Papst, das Oberhaupt der Christenheit, ein großes Zetern darüber, daß den Christen heilige Stätten, wie Jerusalem, Bethlehem und Nazareth, unter muslimische Herrschaft gefallen waren. Er stachelte die Könige und das Volk Europas auf zu einem Unternehmen, das er als heiligen Krieg ansah. Sein leidenschaftlicher Schrei der Entrüstung schwoll so an, daß ihn alle Länder Europas erwiderten, und an der Spitze endloser Heerscharen zogen kreuzfahrende Könige über das Marmarameer und bahnten sich ihren Weg in den asiatischen Kontinent. Damals herrschten die Kalifen aus dem Haus der Fatimiden über Ägypten und einige Länder im Westen der arabischen Welt, und die längste Zeit waren ihnen auch die Seldschuken, die Könige Syriens, untertan. Kurz, die Könige des Westens fielen mit ihren unzähligen Truppen in Syrien und Ägypten ein, und während einer Zeitspanne von 203 Jahren war ständiger Kriegszustand zwischen den Herrschern Syriens und Europas. Fortgesetzt kam Verstärkung aus Europa herüber; immer wieder stürmten und bezwangen die westlichen Herrscher jede Burg in Syrien, aber genau so oft Warfen die islámischen Könige sie wieder hinaus. Schließlich vertrieb Saladin im Jahr 693 n. d. H. die europäischen Könige und ihre Heere aus Ägypten und von der syrischen Küste. Hoffnungslos geschlagen, kehrten sie nach Europa zurück. Millionen Menschen kamen im Verlauf dieser Kreuzzuge ums Leben.
#84Zusammenfassend kann gesagt werden, daß zwischen 490 und 693 n. d. H. Könige, Feldherren und andere Führer Europas ständig vom Westen nach Ägypten und Syrien kamen, und als sie schließlich alle heimkehrten, verbreiteten sie in Europa, was sie im Laufe von über 200 Jahren auf den Gebieten der Staatskunst, der sozialen Entwicklung und Bildung, des Volks- und Hochschulwesens und der Verfeinerung des Lebens in den islamischen Ländern kennengelernt hatten. Die Zivilisation Europas geht auf diese Zeit zurück.
O Volk Persiens! Wie lange soll euer Stumpfsinn, eure Schlafsucht noch fortdauern? Ihr waret einst die Herren der ganzen Erde; die Welt gehorchte auf euren Wink und Ruf. Wie kommt es, daß eure Herrlichkeit erloschen ist, daß ihr heute in Ungnade gefallen seid, verkrochen in einem Winkel der Vergessenheit? Ihr waret der Springquell der Bildung, der nie versiegende Born der Erleuchtung für alle auf Erden; wie kommt es, daß ihr heute vertrocknet, verlöscht, entmutigt seid? Ihr, die ihr einst die Welt entflammtet, wie kommt es, daß ihr heute schlapp und benebelt im Finstern lungert? Öffnet euer geistiges Auge, sehet eure große, greifbare Not! Erhebt euch und strengt euch an, suchet Erziehung, suchet Aufklärung! Ist es richtig, daß fremdes Volk von euren eigenen Ahnen Kultur und Erkenntnis entlehnt und daß ihr, das Fleisch und Blut, die rechtmäißgen Erben dieser vorfahren, leer ausgehet? Wie sieht das aus, wenn eure Nachbarn Tag und Nacht mit ganzem Herzen arbeiten, um für ihren Fortschritt, ihre Ehre und ihre Wohlfahrt zu sorgen, während ihr selbst in eurem unwissenden Fanatismus nur euren Streitigkeiten und Feindschaften, eurem Wohlleben, euren Lüsten und leeren Träumen nachhängt? Ist es des Lohnes wert, daß ihr den Strahlenglanz, der euer Geburtsrecht, eure natürliche Ausstattung, euer angeborenes Begriffsvermögen ist, vergeudet und schläfrig vertrödelt? Aber wieder sind wir von unserem Thema abgewichen.
#85Jene Gebildeten Europas, die über die Tatsachen der Geschichte des Abendlandes gut Bescheid wissen und sich durch Wahrheitsliebe und Gerechtigkeitssinn auszeichnen, stimmen darin überein, daß die tragenden Elemente ihrer Zivilisation in allen Einzelheiten vom Islám abgeleitet sind. So hat zum Beispiel Draper¹, ein bekannter europäischer Fachmann, dessen Genauigkeit, Fähigkeit und umfassende Bildung von allen europäischen Gelehrten bestätigt wird, in einem seiner meistgelesenen Werke, »Die geistige Entwicklung Europas« (The Intellectual Development of Europe), einen ausführlichen Bericht in dieser Hinsicht niedergelegt, d. h. im Hinblick darauf, daß die Völker Europas die Grundlagen der Zivilisation, des Fortschritts und der Wohlfahrt vom Islam hergeleitet haben. Seine Aufzählung ist erschöpfend; eine Übersetzung würde unsere Arbeit ungebührlich in die Länge ziehen, wäre aber unerheblich für die Absicht, die wir hier verfolgen. Wenn der Leser weitere Einzelheiten wünscht, mag er auf den Text jenes Buches zurückgreifen.
Alles in allein zeigt jener Verfasser, wie die europäische Kultur in ihrer Gesamtheit - ihre Gesetze, Grundsätze, Institutionen, ihre Wissenschaften, Philosophien, ihre Gelehrsamkeit, ihre gehobenen Sitten und Gebräuche, ihre Literatur und Kunst, ihr Gewerbefleiß, ihre Organisation und Disziplin, ihr Verhalten, ihre Tugenden und viele Wörter der europäischen Umgangssprachen - von den Arabern herrührt. Jedes dieser Elemente untersucht er eins nach dem anderen, zu jedem gibt er sogar den Zeitraum an, in welchem es vom Islám übernommen wurde. So beschreibt er auch, wie die Araber in den Westen, ins heutige Spanien kamen und Wie sie dort eine hochentwickelte Zivilisation aufbauten, welche hervorragende Stufe ihre Verwaltung und ihr Gelehrtenstand erreichten und Wie festgegründet und gut geleitet ihre Schulen und Universitäten waren, in denen Wissenschaften und Philosophie, Kunst und Technik gelehrt wurden; ferner, wie führend sie damals das Kulturleben bestimmten und wie viele Jugendliche aus den maßgeblichen Familien Europas an die Schulen von Cordoba und Granada, Sevilla und Toledo gesandt wurden, um dort die Wissenschaften und Künste des gehobenen Lebens zu erlernen. Er schildert sogar, daß ein Europäer namens Gerbert sich an der Universität Cordoba im arabischen Land immatrikulierte, um dort Künste und Wissenschaften zu studieren, und wie er nach seiner Rückkehr in Europa solche Bedeutung erlangte, daß er schließlich die Führerschaft in der katholischen Kirche erlangte und Papst wurde (Sylvester II).
¹ Draper, im persischen Text als »Draybár« wiedergegeben. Offensichtlich bezieht sich hier Abdu'l-Bahá auf John William Draper, 1811-1882, einen bekannten Chemiker und Geschichtsforscher, dessen Werke in viele Sprachen übersetzt wurden. Ausführliches Material über die Beiträge der Muslimen zur Kultur des Westens und über Gerbert (Papst Sylvester II) finden sich im zweiten Band des zitierten Buches. Über einige der Entlehnungen des Wesens vom Islám, die systematisch verschwiegen werden, schreibt der Verfasser: »Ein Unrecht, das auf religiösem Haß und nationaler Eitelkeit beruht, kann nicht in alle Ewigkeit fortgesetzt werden« (Band II, S, 42 der revidierten Ausgabe).
#86Der Zweck dieser Hinweise ist, die Tatsache zu untermauern, daß die Religionen Gottes die wahre Quelle der geistigen wie der materiellen Vollkommenheiten des Menschen sind, der Ursprung der Aufklärung und des nutzbringenden Wissens für alle Welt. Wer dies mit gerechtem Sinn erwägt, wird feststellen, daß alle Gesetze des öffentlichen Lebens in diesen wenigen heiligen Worten beschlossen sind:
»Und sie gebieten das Rechte und verbieten das Unrecht und beeilen sich, gute Taten zu vollbringen. Dieses sind die Rechtschaffenen« (Quran 3:110). Und wiederum: »... auf daß unter euch ein Volk sei, das zum Guten auffordert, das Rechte befiehlt und das Unrecht verbietet. Dies sind diejenigen, um die es gut bestellt sein soll« (Quran 3:100). Und weiter: »Wahrlich, Gott gebietet Gerechtigkeit, rechtes Tun ... und verbietet Schlechtigkeit und Unterdrückung. Er ermahnt euch, auf daß ihr eingedenk seid« (Quran 16:92). Ferner, über die Verfeinerung des menschlichen Verhaltens: »Laß Billigkeit walten Und gebiete, was rechtens ist, und halte dich fern von den Toren« (Quran 7:198). Und gleicherweise: »... die ihren Zorn bezwingen und anderen verzeihen. Gott liebt jene, die Gutes tun« (Quran 3:128). Und wieder: »Nicht das ist Frömmigkeit, daß ihr (beim Beten) euer Gesicht nach Osten wendet oder nach Westen; fromm ist vielmehr, wer an Gott glaubt, an den Jüngsten Tag, an die Engel, an die Schrift und an die Propheten, wer aus Liebe zu Gott sein Vermögen hingibt an Anverwandte, Waisen, Arme, an Bittende und Gefangene loszukaufen, wer das Gebet verrichtet, den Armenbeitrag zahlt, wer zu denen gehört, die ihre Verträge einhalten, und wer geduldig ist bei Krankheiten, im Unglück und in Zeiten der Not. Diese sind es, die rechtschaffen sind, diese sind die Gottesfürchtigen« (Quran 2:172). Und abermals: »Sie ziehen jene sich selber vor, auch wenn Armut ihr eigenes Los ist« (Quran 59:9). - Seht, wie diese wenigen heiligen Verse die höchste Ebene und den tiefsten Sinn der Kultur umschließen und alle vortrefflichen Eigenschaften des menschlichen Charakters in sich vereinen.
Bei Gott, dem Herrn - und es gibt keinen Gott außer lhm! Selbst die winzigste Kleinigkeit des zivilisierten Lebens rührt von der Gnade der Offenbarer Gottes her. Welche Sache von Wert für die Menschheit ist jemals in Erscheinung getreten, ohne daß sie zuvor ausdrücklich oder mittelbar in heiligen Schriften dargelegt worden wäre? Aber ach, was hilft dies alles! Sind die Waffen in den Händen von Feiglingen, dann ist keines Menschen Leben und Eigentum sicher, und die Diebe werden nur noch verwegener. Und desgleichen, wenn eine Geistlichkeit, die alles andere als vollkommen ist, die Macht an sich reißt, dann steht sie wie ein eiserner Vorhang zwischen dem Volk und dem Licht des Glaubens.
Aufrichtigkeit ist der Grundstein des Glaubens. Das heißt, ein religiöser Mensch muß seine persönlichen Wünsche vergessen und danach streben, auf jede ihm mögliche Weise und von ganzem Herzen dem öffentlichen Wohl zu dienen. Andererseits ist es einem menschlichen Wesen nicht möglich, sich von seinem eigenen, selbstsüchtigen Nutzen abzuwenden und sein Wohl dem Wohl der Allgemeinheit zu opfern, es sei denn durch wahren religiösen Glauben. Denn Eigenliebe ist in jenen Klumpen Lehm, aus dem der Mensch gemacht ist, hineingeknetet, und ohne die Aussicht auf eine ansehnliche Belohnung wird keiner seinen handgreiflichen materiellen Nutzen hintanstellen. Ein Mensch aber, der an Gott und Sein Wort glaubt, wird um Gottes willen seinen eigenen Vorteil und seine Behaglichkeit aufgeben und sich mit Herz und Seele, aus freien Stücken, dem Allgemeinwohl weihen, weil er die Verheißung und die Gewißheit hat, daß ihn im nächsten Leben reicher Lohn erwartet, und weil ihm aller irdische Nutzen nichts bedeutet im Vergleich zu der immerwährenden Freude und Herrlichkeit künftiger Stufen seines Seins. »Ein anderer aber ist unter den Menschen, der sein eigenes Selbst verkauft aus Verlangen nach dem Wohlgefallen Gottes« (Quran 2:203).
#88Manche stellen sich vor, ein angeborener Sinn für seine Würde bewahre den Menschen davor, Böses zu tun, und biete die Gewähr für seine geistige wie materielle Vervollkommnung. Dies soll besagen, daß ein Mensch, den natürliche Intelligenz, hohe Entschlußkraft und edler Eifer auszeichnen, nicht wegen zu erwartender schwerer Bestrafung für ein Verbrechen oder reiche Belohnung für Redlichkeit, sondern unbewußt davor zurückschreckt, seinen Mitmenschen Leid zuzufügen, und danach hungert und dürstet, ihnen Gutes zu tun. Aber wenn wir über die Lehren der Geschichte nachdenken, wird uns klar, daß dieser Sinn für Ehrbarkeit und Würde nichts anderes als eine der Wohltaten ist, die von den Geboten der Propheten Gottes kommen. Auch nehmen wir bei kleinen Kindern Anzeichen von Angriffslust und Zügellosigkeit wahr; wenn ein Kind keine Anleitung durch einen Lehrer empfängt, vermehren sich seine unerwünschten Eigenschaften von einer Stunde zur andern. Zweifellos tritt deshalb dieser natürliche Sinn für menschliche Würde als Folge der Erziehung auf. Zweitens: Selbst wenn wir um der Beweisführung willen annehmen, daß unbewußte Einsicht und angeborene Sittlichkeit Übeltaten verhindern, ist augenfällig, daß derart begabte Menschen so selten wie der Stein der Weisen sind. Eine Annahme dieser Art läßt sich nicht durch bloße Worte bekräftigen; sie muß durch Tatsachen untermauert sein. Prüfen wir deshalb, welche Wirkkraft in der Schöpfung die breiten Massen zu guten Vorsätzen und guten Taten treibt! Übrigens wäre das Streben nach Rechtschaffenheit, das solch ein seltener Mensch mit diesen Anlagen an den Tag legt, sicherlich noch weit intensiver, wenn er darüber hinaus noch Gottesfurcht in sich verkörperte.
Allumfassende Wohltaten strömen aus der Gnadenfülle der göttlichen Religionen, denn sie führen die wahren Gläubigen zu aufrichtigen Absichten, edlen Zielen, Reinheit und makelloser Ehrbarkeit, umfassender Herzensgüte, Mitempfinden, Vertragstreue, Rücksichtnahme auf die Rechte anderer, Großzügigkeit, Gerechtigkeit in allen Lebenslagen, Menschlichkeit und Nächstenliebe, Tapferkeit und unermüdlichem Eifer im Dienst an der Menschheit. Mit einem Wort, es ist die Religion, die alle menschlichen Tugenden hervorbringt, und diese Tugenden sind das strahlende Licht der Kultur. Wenn ein Mensch diese hervorragenden Eigenschaften nicht aufweist, hat er sicherlich nie einen Tropfen aus dem unergründlichen Strom der Lebenswasser gekostet, die aus den Lehren der heiligen Bücher fluten, noch hat er den leisesten Hauch von den Duftwolken aus den Gärten Gottes verspürt; denn nichts auf Erden kann allein durch Worte belegt werden, und jede Ebene des Seins ist an ihren Zeichen und Symbolen erkennbar, jede Stufe menschlicher Entwicklung hat ihr besonderes Merkmal.
Der Sinn dieser Ausführungen ist, zur Genüge klar zu machen, daß die göttlichen Religionen, die heiligen Gebote und die himmlischen Lehren die unanfechtbare Grundlage menschlichen Glücks sind, und daß die Völker der Welt ohne dieses sichere Heilmittel auf keine wirkliche Linderung oder Erlösung von ihren Leiden hoffen können. Dieses Allheilmittel muß jedoch von einem Weisen, erfahrenen Arzt angewandt werden, denn in den Händen eines Unbefugten könnten alle Heilweisen, die der Herr der Menschen jemals erschaffen hat, um den menschlichen Nöten abzuhelfen, keine Gesundung bringen, sondern würden im Gegenteil die hilflosen Opfer nur zugrunderichten und denen, die bereits krank sind, das Herz noch mehr beschweren.
#90Der Urquell göttlicher Weisheit, die Offenbarung umfassenden Prophetentums (Muhammad) hat die Menschheit angehalten, Künste, Wissenschaften und andere nutzbringende Kenntnisse zu erlernen und bis in die hintersten Winkel Chinas danach zu suchen. Aber die unverständigen, spitzfindigen Schriftgelehrten verbieten dies und rechtfertigen sich mit dem Spruch: »Wer ein Volk nachahmt, ist einer davon.« Sie haben nicht begriffen, Was mit »Nachahmung« in diesem Zitat gemeint ist, geschweige denn, daß sie wüßten, wie die göttlichen Religionen alle Gläubigen auffordern und ermuntern, sich Lebensgrundsätze anzueignen, die zu ständigen Verbesserungen führen, und bei anderen Völkern Künste und Wissenschaften zu erlernen. Wer sich für das Gegenteil ausspricht, hat nie vom Nektar des Wissens getrunken, ist in seine eigene Unkenntnis verstrickt und tappt den Trugbildern seiner Begierden nach.
Urteilt gerecht: Welche der modernen Errungenschaften an sich, welche ihrer Anwendungsmöglichkeiten steht im Gegensatz zu den göttlichen Geboten? Denkt man an die Errichtung von Parlamenten, wird dies im Text des folgenden heiligen Verses ausdrücklich bestimmt: »... die ihre Angelegenheiten durch Beratung regeln ...« (Quran 42:36). Und an anderer Stelle werden die folgenden Worte an das Morgenlicht alles Wissens, die Quelle der Vollkommenheit selbst (Muhammad), gerichtet, obwohl Er doch allumfassende Weisheit besaß: »... und berate dich mit ihnen in dieser Angelegenheit!« (Quran 3:153). Wie könnte angesichts dessen die Frage wechselseitiger Beratung im Widerspruch zum religiösen Gesetz stehen? Die großen Vorteile der Beratung können auch durch logische Beweisführung belegt werden.
#91Läßt sich sagen, es widerspreche den göttlichen Gesetzen, ein Todesurteil von den sorgfältigsten Untersuchungen abhängig zu machen, von der Bestätigung durch mehrere Körperschaften, von gesetzmäßigem Beweis und königlichem Befehl? Läßt sich sagen, die Vorkommnisse unter der früheren Regierung seien in Übereinstimmung mit dem Quran gewesen? In den Tagen, da Hájí Mirza Áqásí Ministerpräsident war, hörte man zum Beispiel aus vielen Quellen, der Gouverneur von Gulpáygán habe dreizehn wehrlose Amtsleute jener Region ergriffen - alle dreizehn Nachkommen des Propheten, alle unschuldig - und habe sie ohne Gerichtsverfahren, ohne Billigung einer vorgesetzten Stelle, in einer einzigen Stunde enthaupten lassen.
Einst hatte Persien mehr als fünfzig millionen Einwohner. Sie sind teilweise durch Bürgerkriege verschwunden, hauptsächlich aber durch den Mangel an einem geeigneten Regierungssystem, durch die Gewaltherrschaft und die ungezügelte Machtvollkommenheit der Orts- und Provinzgouverneure. Im Laufe der Zeit überlebte nicht einmal ein Fünftel dieser Bevölkerung; denn die Gouverneure konnten jedes Opfer, das sie wünschten, wie unschuldig es sein mochte, aussondern, ihren Zorn an ihm auslassen und es vernichten. Aus Lust und Laune pflegten sie erwiesene Massenmörder zu ihren Günstlingen zu erheben. Keine Menschenseele konnte frei ihre Meinung äußern; denn der Gouverneur hatte die absolute Kontrolle. Läßt sich sagen, solche Zustände seien in Übereinstimmung mit dem Gebot der Gerechtigkeit oder mit den göttlichen Gesetzen?
Können wir sagen, es sei den Grundsätzen des Glaubens zuwider, den Erwerb nützlicher Kunstfertigkeiten und allgemeiner Bildung zu fördern, sich über die Wahrheiten solcher Naturwissenschaften, die dem Menschen nutzen, zu informieren, den Tätigkeitsbereich der Industrie und die gewerbliche Produktion auszuweiten und die Wege der Nation zum Wohlstand zu mehren? Widerspricht es der Anbetung Gottes, Gesetz und Ordnung in den Städten zu schaffen, die Landbezirke zu organisieren, die Straßen auszubessern, Eisenbahnen zu bauen, Reisen und Warentransporte zu erleichtern und so die Wohlfahrt des Volkes zu steigern? Wäre es unvereinbar mit den göttlichen Geboten und Verboten, wollten wir die verlassenen Bergwerke, die größte Wohlstandsquelle der Nation, wieder in Gang setzen, und Fabriken bauen, aus denen für das ganze Volk Bequemlichkeit, Sicherheit und Reichtum hervorgeht? Oder die Schaffung neuer Industrien fördern und Verbesserungen an unseren heimischen Produkten herbeiführen?
#92Bei dem Allherrlichen! Es befremdet mich zu sehen, was für ein Schleier den Menschen über die Augen gefallen ist und wie sie dieser Schleier selbst von offensichtlichen Notwendigkeiten fernhält. Und wenn ihnen triftige Gründe und Beweise vorgeführt werden, antworten sie ohne jeden Zweifel aus tausend tief verborgenen Ressentiments und Vorurteilen heraus: »Wenn am Tag des Gerichts die Menschen vor ihrem Herrn stehen, werden sie nicht nach ihrem Bildungs- und Kulturstand gefragt; nein, sie werden auf ihre guten Taten geprüft.« Zugegeben! Laßt uns unterstellen, der Mensch würde nicht nach seiner Kultur und Erziehung gefragt. Aber selbst wenn dem so ist, wird nicht die Führungselite zur Rechenschaft gezogen? Wird ihr nicht gesagt werden: »O ihr Oberhäupter und Anführer! Warum habt ihr diese mächtige Nation von den Ruhmeshöhen ihrer Vergangenheit herabstürzen lassen? Warum ließet ihr sie von ihrem Platz im Herzen und Mittelpunkt der Kulturwelt abgleiten? Ihr wäret sehr wohl imstande gewesen, Maßnahmen zu ergreifen, die diesem Volk zu Ruhm und Ehre gereicht hätten. Das habt ihr versäumt, ja ihr habt es noch darauf angelegt, das Volk jener allgemeinen Wohltaten zu berauben, die alle Völker genießen. Hat nicht dieses Volk einst gestrahlt wie die Sterne an einem glückverheißenden Himmel? Wie konntet ihr es wagen, sein Licht in der Finsternis zu ersticken? Ihr hättet die Leuchte irdischer und ewiger Herrlichkeit für dieses Volk entzünden können; warum habt ihr es versäumt, aus ganzem Herzen danach zu streben? Und wenn mit der Gunst Gottes ein helles Licht aufloderte, warum habt ihr es dann nicht hinter dem Glas eures Heldenmutes vor den Winden behütet, die ihm entgegenschlugen? Warum habt ihr euch mit aller Macht erhoben, um es auszutilgen?«
#93»Und jedem Menschen haben Wir sein Schicksal um den Hals geschlungen. Und am Tag der Auferstehung werden Wir ein Buch hervorbringen und ihm weit geöffnet vorlegen« (Quran 17:14).
Noch einmal: Gibt es eine edlere Tat als den Dienst am Allgemeinwohl? Gibt es etwas Segensreicheres für einen Menschen, als daß er zur Quelle der Erziehung, des Fortschritts, der Wohlfahrt und der Ehre für seine Mitmenschen wird? Nein, bei Gott dem Herrn! Es ist die höchste Tugend für begnadete Seelen, hilflose Weggenossen bei der Hand zu nehmen und sie von ihrer Unwissenheit, Erniedrigung und Armut zu befreien, sich mit lauteren Beweggründen und aus reiner Liebe zu Gott aufzumachen und zielstrebig dem Dienst an den Massen zu weihen, dabei den eigenen weltlichen Nutzen zu vergessen und nur im Dienst am Allgemeinwohl zu wirken. »Sie ziehen jene sich selber vor, auch wenn Armut ihr eigenes Los ist« (Quran 59:9). »Die Besten sind jene, die dem Volke dienen; die Schlimmsten sind jene, die dem Volke schaden.«
Ruhm sei Gott! Was für seltsame Zustände herrschen heutzutage, wenn sich keiner von allen Zuhörern fragt, welche Beweggründe der Redner, der eine Forderung vorbringt, in Wirklichkeit wohl hat und welche selbstsüchtigen Absichten er nicht hinter der Maske seiner Worte verborgen halten mag. Es trifft sich zum Beispiel, daß ein einzelner, der seine kleinlichen, persönlichen Interessen vorantreiben sucht, den Fortschritt eines ganzen Volkes aufhält. Um Wasser auf seine Mühle zu leiten, läßt er die Höfe und Felder aller anderen verdorren und vertrocknen. Um sich an der Macht zu halten, wird er immerfort die Massen zu fanatischen Vorurteilen hinlenken, die die Kultur an ihren Grundmauern unterspülen.
#94Wenn ein solcher Mensch Taten vollführt, die vor den Augen Gottes verflucht sind und von allen Propheten und Heiligen verabscheut werden, und im selben Augenblick einen anderen sieht, der nach dem Essen seine Hände mit Seife wäscht - einem Kulturgut, dessen Erfinder Abdu'lláh Búní, ein Muslim, war - erhebt er ein Zetergeschrei, das religiöse Gesetz sei umgestoßen und die Sitten und Gebräuche heidnischer Völker würden bei uns Einzug halten, nur weil jener Unglückliche nicht die Hände vorn an seinem Rock und an seinem Bart abwischt. Ohne jedes Empfinden für die Bosheit seines eigenen Wandels betrachtet er das, was zu Sauberkeit und Verfeinerung führt, als gottlos und töricht.
O Volk Persiens ! Öffnet eure Augen! Gebet acht! Befreiet euch aus der blinden Gefolgschaft der Fanatiker, aus dieser empfindungslosen Nachahmung, die die schlimmste Ursache dafür ist, daß die Menschen auf den Weg der Unwissenheit und Rückständigkeit absinken. Sehet den wahren Stand der Dinge. Erhebet euch! Ergreifet solche Maßnahmen, die euch Leben und Glück und Größe und Ruhm unter allen Nationen der Welt bringen!
Die Winde der wahren Frühlingszeit wehen über euch hin. Schmücket euch mit Blüten wie die Bäume im duftenden Garten! Die Frühlingswolken ergießen sich. Werdet frisch und grünend wie die süßen Gefilde der Ewigkeit! Der Morgenstern erstrahlt. Setzet den Fuß auf den wahren Pfad! Das Meer der Allmacht wogt. Eilet zu den Ufern der Entschlossenheit und des Reichtums! Das reine Wasser des Lebens quillt hervor. Warum vergeudet ihr eure Tage dürstend in der Wüste? Steckt euch hohe Ziele und setzt euch edle Zwecke! Wie lange soll eure Trägheit, wie lange eure Achtlosigkeit noch dauern? Verzweiflung ist alles, was ihr von eurer Genußsucht in dieser und der nächsten Welt davontragen könnt. Elend und Schande sind es, die euch der Fanatismus, die gläubige Nachfolge unverständiger Toren einbringt. Die Bestätigungen Gottes stützen euch, die Hilfe Gottes ist nahe. Warum rufet und frohlocket ihr nicht aus ganzem Herzen, warum strebet ihr nicht vorwärts mit ganzer Seele?
#95Zu den Problemkreisen, die sorgfältiger Überprüfung und Reform bedürfen, zählen die Lehrmethoden auf den verschiedenen Wissensgebieten und die Organisation der akademischen Studienpläne. Ein Mangel an Ordnung hat dazu geführt, daß die Erziehung wirr und wahllos vor sich geht. Unwesentliches, das gründliches Studium nicht wert ist, erfährt ungebührliche Aufmerksamkeit in solchem Maße, daß die Studenten lange Zeiträume hindurch ihren Verstand und ihre Kraft auf einen Stoff vergeuden, der reiner Aberglauben und keineswegs beweisfähig ist. Solche Studien bestehen darin, daß man sich in Behauptungen und Ideen vertieft, die eine sorgfältige Prüfung als nicht einmal unwahrscheinlich, sondern sogar als unvermischten Aberglauben erweist; sie stellen nichts als eine Erforschung nutzloser Gedankenspiele, eine Jagd nach Sinnwidrigkeiten dar. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß die Beschäftigung mit solchen Illusionen, das Prüfen und ermüdende Debattieren von solchen leeren Behauptungen nichts als Zeitvergeudung, nichts als mutwillige Zerstörung der eigenen Lebenstage ist. Und nicht nur das: Diese Beschäftigung hindert den Menschen auch daran, solche Künste und Wissenschaften zu studieren, deren die Gesellschaft dringend bedarf. Der Mensch sollte deshalb, ehe er sich mit einem Studienobjekt befaßt, der Frage nachgehen, wozu es dient und welche Frucht, welcher Nutzen daraus gezogen werden kann. Wenn es sich um einen nützlichen Wissenszweig handelt, das heißt, wenn die Gesellschaft wesentliche Vorteile daraus erwirbt, dann sollte er sein Studium sicherlich mit ganzem Herzen verfolgen. Wenn es sich dagegen um leere, nutzlose Wortstreitereien, um das müßige Aneinanderreihen von Vorstellungen handelt, wenn nichts dabei herauskommt als gegenseitige Verbitterung, warum sollte man dann sein Leben solchen sinnlosen Haarspaltereien und Disputen widmen?
Da dieser Fragenkreis weiterer Aufklärung und gründlicher Verhandlung bedarf, damit klar erwiesen werden kann. wie wertvoll manche Themen sind, die heute vernachlässigt werden, während die Nation keinerlei Bedarf an verschiedenen anderen, überflüssigen Studien hat, wird unser Standpunkt, so Gott will, in einem zweiten Band weiterentwickelt werden. Wir hoffen, daß die Lektüre dieses ersten Bandes die Denkweise und das Verhalten der Gesellschaft grundlegend ändern wird; denn wir haben diese Arbeit in aufrichtiger Absicht und nur um Gottes willen auf uns genommen. Obgleich in dieser Welt Menschen, die zwischen aufrichtigen Absichten und falschen Worten unterscheiden können, so selten wie der Stein der Weisen sind, richten wir doch unsere Hoffnung auf die unerschöpflichen Gnadengaben unseres Herrn.
#96Fassen Wir zusammen: Was jene betrifft, die der Ansicht sind, wir mußten bei der Durchführung dieser notwendigen Reformen mit Überlegung vorgehen, wir mußten Geduld haben und die Ziele eines nach dem anderen zu erreichen suchen, so sei gefragt: Was meinen sie damit? Wenn sie sich mit »Überlegung« auf die Umsicht beziehen, die in der Staatskunst erforderlich ist, hat ihr Gedanke Hand und Fuß und ist zeitgemäß. Sicherlich können gewichtige Vorhaben nicht in Eile zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht werden; Übereilung wurde in solchen Fällen nur Unheil anrichten.
Die politische Welt ist wie die des Menschen: Dieser ist am Anfang nur Same und schreitet dann stufenweise zum Zustand des Embryos und Foetus, wobei er ein Knochengerüst erhält, mit Fleisch umgeben wird und seine eigentliche Gestalt annimmt, bis er schließlich die Stufe erreicht, auf der er schicklich das Wort erfüllt: »... der erhabenste der Schöpfer«¹.
¹ In Quran 23:14 heißt es: »Verherrlicht sei deshalb Gott, der Erhabenste der Schöpfer!«
Dies ist ein Erfordernis der Schöpfung und in der Weisheit des Allumfassenden begründet. In gleicher Weise kann sich deshalb auch die politische Welt nicht plötzlich vom Nadir der Zerrüttung zum Zenith der Rechtlichkeit und Vollkommenheit entwickeln. Befähigte Persönlichkeiten müssen sich vielmehr Tag und Nacht bemühen und alle Mittel, die zum Fortschritt führen, anwenden, damit sich Regierung und Volk Stufe um Stufe entwickeln, Tag für Tag, ja Stunde für Stunde.
Die Welt des Staubes belebt sich, wenn durch Gottes Segen drei Dinge auf Erden wirken; dann erstrahlt sie wundersam geschmückt und voller Anmut. Dies sind erstens die befruchtenden Frühlingswinde, zweitens die strömende Fülle der Frühlingswolken und drittens die Wärme der Sonnenstrahlen. Wenn diese drei von den zahllosen Gaben Gottes zusammenkommen, dann werden nach Seinem Willen langsam dürre Bäume und Zweige wieder frisch und grün und schmücken sich mit vielen Formen von Blüten und Früchten. Genau so ist es, wenn die reinen Absichten und die Redlichkeit des Herrschers, die Weisheit, vollendete Geschicklichkeit und Staatsklugheit der Verwaltungsbehörden und die entschlossenen, unermüdlichen Bemühungen des Volkes zusammentreffen: Die Erfolge des Fortschritts, der weitreichenden Reformen, des Blühens und Gedeihens von Regierung und Volk werden Tag für Tag klar und offenbar.
Falls jene Leute aber mit Überlegung, Aufschub und Verzögerung ausdrücken wollen, daß man sich in jedem Menschenalter nur mit einem verschwindenden Teil jener notwendigen Reformen befassen solle, dann ist dies nichts als Trägheit und Teilnahmslosigkeit, und ihr Verhalten würde zu keinem anderen Ergebnis führen als zur endlosen Wiederholung leerer Worte. Übereilung ist schädlich, aber Trägheit und Teilnahmslosigkeit sind tausendmal schlimmer. Der Mittelweg ist der beste, wie geschrieben steht: »Es obliegt dir, Gutes zu tun zwischen den beiden Übeln«, wobei sich dies auf die goldene Mitte zwischen zwei Extremen bezieht. »Und lasse deine Hand nicht am Nacken gefesselt sein, und weite sie auch nicht in voller Ausdehnung ... Suche zwischen diesem einen Mittelweg!« (Quran 17:31 u. 110).
#98Die erste und dringlichste Notwendigkeit ist die Förderung der Erziehung. Man kann sich nicht denken, daß ein Volk zu Wohlstand und Erfolg kommt, ohne daß diese ausschlaggebende, grundlegende Frage vorangetrieben wird. Die Hauptursache für den Niedergang und Verfall der Völker ist Unwissenheit. Heutzutage wissen die Massen des Volkes nicht einmal über das Alltägliche Bescheid; wieviel weniger begreifen sie die Kernfragen wichtiger Probleme und die verwickelten Lebensbedürfnisse unserer Zeit!
Es ist deshalb dringend nötig, daß brauchbare Aufsätze und Bücher geschrieben werden, die klar und bündig darlegen, wessen das Volk heutzutage bedarf und was dem Glück und dem Fortschritt der Gesellschaft dienlich ist. Diese Aufsätze und Bücher sollten veröffentlicht und über die ganze Nation verbreitet werden, so daß wenigstens diejenigen im Volk, die lesen können, bis zu einem gewissen Grad aufwachen und sich aufmachen, um sich auf Wegen vorwärtszubemühen, die zu ihrem ewigen Ruhme führen. Die Veröffentlichung edler Gedanken ist die dynamische Kraft in den Schlagadern des Lebens, ja die Seele der Menschenwelt. Die Gedanken sind unendlich wie das Meer, während die Auswirkungen und die wechselnden Umstände des Daseins den Wellen in ihrer unterschiedlichen Gestalt und räumlichen Begrenzung gleichen; erst wenn das Meer wogt, steigen die Wellen an und tragen die Perlen der Erkenntnis ans Ufer des Lebens.
Bruder, du bist dein Denken allein,¹ Rúmí, Mathnaví II 2:277. Der nächste Vers lautet: »Ein duftender Garten, gleicht dem Denken der Rose, doch ist es dornig, taugt es nur für's Feuer.«
#99Die öffentliche Meinung muß auf das gelenkt werden, was dieses Tages würdig ist. Dies ist jedoch nur möglich durch angemessene Argumente und durch klar verständliche, schlüssige Beweise. Zweifellos suchen die Massen nach ihrem Glück und sehnen sich danach, aber wie ein dichter Schleier trennt sie ihre Unwissenheit davon.
Überleget, wie sehr der Mangel an Erziehungsmöglichkeiten ein Volk schwächt und erniedrigt. Gemessen an der Bevölkerungszahl ist heute (1875) China mit seinen über vierhundert Millionen Einwohnern die größte Nation der Welt. Demnach sollte die Regierung Chinas die hervorragendste auf Erden sein und sein Volk das berühmteste von allen. Aber ganz im Gegenteil handelt es sich, aus Mangel an kultureller und zivilisatorischer Erziehung, um die ohnmächtigste und hilfloseste aller schwachen Nationen. Vor kurzem zog ein kleines Kontingent englischer und französischer Truppen gegen China zu Feld und besiegte dieses Land so gründlich, daß sogar die Hauptstadt Peking eingenommen wurde. Hätten Chinas Regierung und Volk mit den Fortschritten der Wissenschaft in unseren Tagen Schritt gehalten, wären sie in der Kunst und Technik der modernen Zivilisation bewandert, dann hätten alle Völker der Erde zusammen sie nicht zu überwinden vermocht, und die Angreifer wären mit blutigen Köpfen dorthin zurückgekehrt, woher sie gekommen waren.
Noch erstaunlicher als dieses Ereignis der Zeitgeschichte ist die Tatsache, daß die Regierung Japans ursprünglich unter der Schutzherrschaft Chinas stand, und die Art und Weise, wie Japan vor ein paar Jahren erwachte und sich die Technik des modernen Fortschritts und der Zivilisation zu eigen machte. Wissenschaften und Industriezweige, die dem öffentlichen Wohl dienen, wurden gefördert, und die Regierung setzte alles daran, was in ihrer Macht und ihren Kräften stand, um die öffentliche Meinung auf notwendige Reformen zu lenken. Diese Regierung ist jetzt so vorangekommen, daß sie kürzlich der chinesischen Staatsführung gegenüber eine herausfordernde Haltung einnehmen konnte, obwohl die japanische Bevölkerung nur ein Sechstel oder ein Zehntel der chinesischen ausmacht. Beobachtet deshalb gründlich, wie das Bildungswesen und die Zivilisation einer Regierung und ihrem Volk zu Ehre, Wohlstand, Unabhängigkeit und Freiheit gereichen.
#100Es ist überdies eine unumgängliche Notwendigkeit, in ganz Persien, selbst in den kleinsten Landstädten und Dörfern, Schulen einzurichten und das Volk auf jede nur mögliche Weise anzuhalten, daß es die Kinder lesen und schreiben lernen läßt. Notfalls sollte die Schulerziehung sogar zwangsweise eingeführt werden. Solange nicht die Nervenstränge und Blutadern der Nation von neuem Leben durchpulst werden, wird sich jedes in Angriff genommene Vorhaben als fruchtlos erweisen; denn das Volk ist wie ein menschlicher Körper, die Entschlossenheit und der Wille, sich durchzusetzen, sind wie die Seele, aber ein seelenloser Körper bewegt sich nicht. Diese dynamische Kraft ist in höchstem Maße im Wesenskern des persischen Volkes beschlossen; die Vertiefung des Erziehungswesens wird sie entfesseln.
#101Wir kommen zu jenen, die der Meinung sind, es sei weder notwendig noch angebracht, die Grundsätze der Zivilisation, die Grundlagen des Fortschritts zu höheren Ebenen gesellschaftlichen Glücks in der materiellen Welt, die Gesetze, welche gründliche Reformen bewirken, die Maßnahmen, die die Reichweite des Kulturlebens ausdehnen, von irgendwoher auszuleihen; vielmehr stehe es Persien und den Persern eher an, über die Lage nachzudenken und dann ihre eigene Technik des Fortschritts zu schaffen.
Wenn die Tatkraft, die Intelligenz und Geschicklichkeit der Größten unserer Nation, die energische Entschlossenheit der bedeutendsten Persönlichkeiten am kaiserlichen Hof und die entschiedenen Bemühungen all derer, die Wissen und Fähigkeiten aufweisen und in den großen Gesetzmäßigkeiten des politischen Lebens gut bewandert sind - wenn alle diese Kräfte zusammengefaßt würden und sie allesamt jede Anstrengung unternähmen, über alle wichtigen Einzelheiten wie auch über die Hauptströmungen der politischen Entwicklung prüfend nachzudenken, dann wäre es sehr wahrscheinlich, daß sie wirksame Pläne entfalten und mancherlei Zustände gründlich reformieren könnten. In der Mehrzahl der Einzelfragen müßten sie jedoch nach wie vor Anleihen machen; denn in all den vielen Jahrhunderten der Geschichte haben hunderttausend Persönlichkeiten ihr ganzes Leben darauf verwendet, solche Dinge zu erproben, bis sie in der Lage waren, wesentliche Entwicklungen in Gang zu setzen. Wenn all dies ignoriert werden sollte, wenn die Mühe aufgewendet werden müßte, diese Hilfsmittel in unserem eigenen Land und in unserer eigenen Weise neu zu erfinden und dadurch den gewünschten Fortschritt herbeizuführen, dann würden viele Generationen vergehen, ohne daß das Ziel erreicht wäre.
Sehet zum Beispiel, wie man sich in anderen Ländern lange Zeiträume hindurch ausdauernd gemüht hat, bis man schließlich die Kraft des Dampfes entdeckte und mit ihrer Hilfe in die Lage versetzt war, schwere Arbeiten auszuführen, die einstens die menschliche Leistungsfähigkeit überstiegen. Wieviele Jahrhunderte würden wir wohl brauchen, wollten wir auf den Gebrauch der Dampfkraft verzichten und stattdessen alle Nerven anspannen, um einen Ersatz zu finden. Es ist folglich besser, wenn wir mit der Anwendung des Dampfes fortfahren und gleichzeitig unausgesetzt die Möglichkeit prüfen, ob es nicht noch eine weit größere Kraft gibt.
Im selben Licht sollte man die anderen Vorteile der Technik, der Wissenschaften, der Künste und der politischen Denkmodelle von erwiesener Nützlichkeit sehen, das heißt, jene Verfahrensweisen, die Jahrhunderte hindurch immer wieder erprobt worden sind und deren Anwendungsmöglichkeiten und Vorteile erwiesenermaßen dem Staat zu Ruhm und Größe, dem Volk zu Wohlfahrt und Fortschritt gereichten. Wollten wir ohne stichhaltigen Grund auf all dies verzichten und andere Reformmaßnahmen ausprobieren, dann würden viele Jahre und viele Menschenleben vorübergehen, ehe solche Reformen zum Ziel kämen und ihre Vorteile unter Beweis gestellt werden könnten. Einstweilen »sind wir noch an der ersten Straßenbeuge«¹.
¹ Aus dem Zitat: »'Attár (persischer Dichter und Mystiker, ca. 1119-1220 n. Chr.) hat die sieben Städte der Liebe durchschritten, und wir sind noch an der ersten Straßenbeuge«.
#102Die Überlegenheit der Gegenwart im Verhältnis zur Vergangenheit besteht darin, daß die Gegenwart vielerlei als Modell übernehmen und sich aneignen kann, was in der Vergangenheit bereits erprobt und als nützlich bewiesen wurde; darüber hinaus kann die Gegenwart ihre eigenen Neuentdeckungen machen und mit diesen ihr wertvolles Erbe mehren. Es leuchtet ein, daß die Errungenschaften und Erfahrungen der Vergangenheit für die Gegenwart bekannt und verfügbar sind, während die der Gegenwart eigentümlichen Entdeckungen der Vergangenheit unbekannt waren. Dies setzt voraus, daß sich das nachfolgende Geschlecht aus fähigen Persönlichkeiten zusammensetzt. Wieviele Nachkommen haben andererseits jeden Tropfen von dem unermeßlichen Meer an Erkenntnis vermissen lassen, das ihre Vorfahren besessen hatten!
Denket ein wenig nach: Laßt uns annehmen, durch die Macht Gottes würde eine Gruppe von Menschen plötzlich auf die Erde versetzt. Offensichtlich benötigen sie vielerlei Dinge, um für ihre Menschenwürde, ihr Glück und Behagen zu sorgen. Ist es nun zweckmäßiger für sie, diese Dinge von ihren Zeitgenossen zu übernehmen, oder sollten sie in jeder Generation nichts übernehmen, sondern unabhängig dieses und jenes Hilfsmittel, das für das menschliche Dasein erforderlich ist, neu erschaffen?
Wenn andere die Auffassung vertreten, jene Gesetze, Grundsätze und Grundlagen des Fortschritts auf der höchsten Ebene einer voll entwickelten Gesellschaft, die im Ausland gebräuchlich sind, paßten nicht auf die Verhältnisse und die herkömmlichen Bedürfnisse des persischen Volkes, und deshalb mußten die Planungsfachleute Persiens alle Anstrengungen unternehmen, für Persien angemessene Reformen durchzusetzen - dann laßt sie zuerst darlegen, welcher Schaden aus solchen »Einfuhren« erwachsen könnte.
#103Würde es dem Charakter des persischen Volkes widersprechen, wenn man das Land aufbaute, die Straßen ausbesserte, das Schicksal der Bedürftigen durch mannigfache Mittel erleichterte, die Armen wieder zu Ehren brächte, die Massen des Volkes auf den Weg des Fortschritts führte, den öffentlichen Wohlstand mehrte, den Gesichtskreis des Bildungswesens erweiterte, die Verwaltung zweckmäßig ordnete, die freie Ausübung der Persönlichkeitsrechte, den Schutz von Laib, Leben und Eigentum, von Ruf und Würde sicherte? Was immer diesen Maßnahmen Widerstreitet, hat sich in jedem Land bereits als schädlich erwiesen und berührt keinen Ortsbereich mehr als den anderen.
Der ganze politische Aberglaube beruht auf Mangel an Weisheit und Verständnis, auf unzulänglicher Beobachtung und Analyse. Tatsächlich verbirgt die Mehrheit der Reaktionäre und der Zauderer hinter einem Staudamm eitler Worte lediglich ihre eigensüchtigen Interessen; sie verwirren den hilflosen Massen den Sinn mit öffentlichen Erklärungen, die in keinerlei Bezug zu ihren gut versteckten Zielsetzungen stehen.
O Volk Persiens! Das Herz ist ein göttliches Pfand. Reinige es vom Makel der Eigenliebe und schmücke es mit der Krone reiner Absicht, ruf daß die heilige Ehre, die immerwährende Größe dieser erlauchten Nation über der Welt erstrahle wie das Morgenlicht von einem glückverheißenden Himmel. Wie Schatten huschen die wenigen Tage auf Erden vorbei und sind verflogen. Mühet euch also, daß Gott Seine Gunst auf euch strahle und ihr ein ehrenvolles Gedenken in den Herzen und auf den Lippen derer wachhaltet, die nach euch kommen. »Und gewähre, daß die Nachwelt ehrerbietig von mir spricht« (Quran 26:84).
Glücklich der Mensch, der sein eigenes Wohl außer acht läßt und wie die Erwählten Gottes mit seinen Weggenossen wetteifert im Dienst am Wohle aller, bis er, gefestigt durch den Segen und die unablässige Bestätigung Gottes, die Kraft erwirbt, diese machtvolle Nation erneut zu den ehrwürdigen Gipfeln ihres Ruhmes zu führen, dieses verdorrte Land mit köstlichem neuem Leben zu durchfluten und wie ein geistiger Frühling jene Bäume, die das menschliche Leben verkörpern, zu schmücken mit frischen Blättern und Blüten und mit den Früchten heiliger Glückseligkeit.
Hinweis:Die englische Version organisiert das Buch in verschiedene deutlich mit sog. Initialen abgehobenen Abschnitte. Die deutsche Fassung übernimmt diese Darstellung, jedoch mit noch weiteren Unterabschnitten, teilweise sogar mit eigenen Unterabteilungen, die in der englischen Version als solche gar nicht erkennbar sind, z.B. germ s.30 - engl p.23 oder auch engl p.24 - germ S.31
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